Kapitel 10
Arri konnte sich nicht daran erinnern, das Pochen ihres Herzens jemals zuvor so laut gehört zu haben. Sie hatte Angst, war verzweifelt. Vor allem aber war sie enttäuscht, dass ihre Flucht ein so jähes Ende genommen hatte. Wenn sie es nur noch geschafft hätte, ihr Schwert aus dem Versteck in der Höhle zu holen - dann hätte sie sich nicht mehr so leicht einfangen lassen!
Aber so kam alles viel schlimmer, als sie sich das hatte vorstellen können. Von Larkar war keine Spur zu sehen, was sie auf der einen Seite erleichterte, ihr andererseits aber auch einen scharfen Stich versetzte. Obwohl sie den Speerträger gerade erst kennengelernt hatte, schien er ihr doch schon so vertraut wie ein Bruder, auf dessen selbstverständliche Unterstützung man sich verließ.
Leider erwartete sie aber auch ein anderer, der ihr nur zu vertraut war. Taru. Und bei ihm konnte sie sicher sein, dass er schon wieder den nächsten Racheplan ausheckte.
Dragosz’ Sohn grinste dann auch dreckig, als Franwar sie wie eine dreckige Diebin, die man auf frischer Tat geschnappt hatte, den Weg hinaufstieß. Dabei konnte sie nicht verhindern, dass ihr eine Träne die Wange hinablief. Mit einer ärgerlichen Handbewegung wollte sie sie wegwischen. Aber Franwar packte ihr Handgelenk und drückte es brutal herab. Wahrscheinlich hatte er geglaubt, sie wolle sich aus seinem Griff lösen.
»Verdammte Drude«, schimpfte einer der anderen Jäger. »Hast du noch nicht genug Unheil angerichtet? Musst du jetzt auch noch uns angreifen?«
Dieser ungerechte Vorwurf war ein weiterer Pfeil, der ihre Seele traf. Sie hatte überhaupt kein Unheil über irgendjemanden gebracht. Es war doch allein sie, der man beständig Unrecht angedeihen ließ!
»Das ist ja eine schöne Überraschung«, rief Taru, als sie auf das Langhaus zusteuerten, vor dem er wie ein Herrscher, dem man Tribut zollen musste, mit verschränkten Armen stand.
Dummerweise sah er dabei ziemlich kümmerlich aus. Jedenfalls im Vergleich zu dem ebenfalls noch recht jungen Mann, der eben gerade aus dem Haus getreten war. Er hatte langes, lockiges blondes Haar und weiche Gesichtszüge, die durch einen sorgfältig gestutzten Bart eher betont als verdeckt wurden. Gekleidet war er auf eine ganz und gar ungewöhnliche Art: in ein braunes Gewand aus aufwendig gefertigtem Stoff, das mit goldbestickten Borten verziert war. Etwas Ähnliches hatte Arri erst ein einziges Mal gesehen, und zwar im großen Heiligtum von Goseg, als man sie und ihre Mutter durch die Holzpalisaden hindurch auf den inneren Kreis der Steinmonolithe geführt hatte, um sie Nor, dem greisen Hohepriester, vorzuführen.
Das war sehr, sehr lange her, und doch kehrten plötzlich Erinnerungsfetzen an jenes Gefängnis in ihr hoch, in das sie Nor hatte sperren lassen. Sie glaubte die muffige Luft des winzigen Raumes wieder zu riechen, in dem sie tagelang eingesperrt gewesen war - mit ungewissem Ausgang. Stand ihr jetzt ein ähnliches Schicksal bevor?
Der Mann, der er ihr entgegensah, hatte bis auf seine Kleidung allerdings überhaupt nichts von den Menschen, die sie in Goseg zu Gesicht bekommen hatte - und schon gar nichts von Nor. Sie erinnerte sich noch ziemlich gut daran, welchen Schreck sie bekommen hatte, als sie dem uralten Hohepriester vorgeführt worden war. Er hatte ein von Runzeln und Falten übersätes, aber vollkommen haarloses Gesicht gehabt, bei dem selbst die Augenbrauen fehlten und anstelle der Wimpern lediglich zwei Reihen kaum wahrnehmbarer, verkümmerter schwarzer Streifen zu erkennen waren. Arri hoffte inständig, diesem Mann nie wieder begegnen zu müssen.
Der Mann aber, der sie hier erwartete, sah dagegen jung und auf eine Art gut aus, die gewiss viele Frauen in seinen Bann zog. Das schien er auch durchaus selbst zu wissen und entsprechend einzusetzen. Der Blick seiner braunen Augen war fast freundlich auf Arri gerichtet, so als wäre sie ein lang erwarteter Besuch, den es respektvoll zu begrüßen galt. Rechts und links neben ihm hatten sich zwei langhaarige Männer aufgebaut, die über ihren dunklen Wickelgewändern schwarze Mäntel trugen. Kein Zweifel konnte bestehen: So kleideten sich nur Krieger Gosegs.
Im Gegensatz zu ihrem Herrn blickten die beiden Krieger allerdings alles andere als freundlich. Sie bemühten sich mit Erfolg um einen Gesichtsausdruck, den man durchaus als finster bezeichnen konnte.
Rar, der sich ein wenig hinter Taru aufgebaut hatte, versuchte es ihnen gleichzutun. Es musste wohl an seiner Art liegen, dass er dabei eher etwas dümmlich wirkte. Immerhin hatte er ohne Zweifel die breitesten Schultern und die stärksten Oberarme von allen.
»Gut gemacht, Männer«, sagte Taru, als ihr Franwar einen Stoß gab, der sie vorwärtstaumeln ließ. »Ich dachte schon, ich müsste der Drude bis zum Ende der Welt nachlaufen!«
Damit wollte er offensichtlich die gekonnt leichte Art nachahmen, mit der es Dragosz verstanden hatte, auch eine verfahrene Lage zu entspannen. Bei ihm klang der Satz allerdings eher so, als spräche ihn ein Fünfjähriger aus.
Der Mann mit den langen Lockenhaaren blickte nun Taru an, und ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Du musst Dragosz’ Sohn sein«, stellte er fest. »Dein Vater hat mir schon so manches von dir erzählt.«
Tarus Unterkiefer klappte herunter, dann rettete er sich in ein Lächeln, wie es Rar kaum dümmlicher hinbekommen hätte.
»Warum ist dein Vater nicht gekommen?«, fragte der Mann aus Goseg. Irgendwie sah er dabei wie ein großer Raubvogel aus, der eine Beute erspäht hatte und nun überlegte, wie er sie am besten packen konnte. »Warum schickt er dich?«
»Das ist, weil ...«, Rar deutete mit dem Zeigefinger auf Arri, »weil die da ...«
Taru hob die Hand, auch das war eine Bewegung, die er sich von seinem Vater etwas besser hätte abschauen müssen, damit sie nicht wie das ziellose Herumgefuchtele eines Kleinkinds aussah.
Rar brach mitten im Satz ab und Tarus Gesicht verfinsterte sich. »Ich bin wirklich Taru, der Sohn von Dragosz und sein legitimer Nachfolger. Und ich bin gekommen, um meinen Vater zu vertreten.«
Das war frech gelogen, denn Taru hatte gewiss nicht gewusst, dass sich sein Vater gerade hier mit einem Vertreter Gosegs hatte treffen wollen. In Wahrheit hatte er nichts anderes versucht, als die Frau seines toten Vaters erst zu entführen und dann umzubringen.
Der Fremde konnte aber davon nichts wissen. Trotzdem huschte ein Schatten über sein Gesicht. »Also stimmt es, was man sich erzählt. Dragosz ist tot.«
»Ja!« Rar spie das Wort beinahe aus. »Er ist tot, weil die da ...«
Taru wandte sich zu ihm um. »Schweig still.« Seine Stimme schallte zwar laut über den Platz, doch es schwang auch eine Art von Unsicherheit darin mit, die seinen Worten einen Großteil der erhofften Wirkung nahm. »Es steht dir nicht zu, einfach das Wort an dich zu reißen!«
Es hätte nur noch gefehlt, dass er dabei mit dem Fuß aufgestampft hätte, fand Arri.
Rar starrte Taru nur verblüfft an. Wahrscheinlich verstand er nicht einmal, was der andere von ihm wollte. Dass aus seinem Raufbruder nun plötzlich der Herrscher der Raker geworden sein sollte, das leuchtete ihm wohl genauso wenig ein wie Arri.
Aber das wird wohl auch die einzige Gemeinsamkeit, die wir jemals haben werden, dachte Arri.
»Die da«, der Mann aus Goseg wandte sich an Arri, »das musst wohl du sein. Wer bist du?«
»Ich«, Arri musste sich räuspern. »Ich bin Arianrhod. Die Heilerin ...«
»Du warst die Heilerin«, unterbrach sie Rar. »Jetzt bist du nichts weiter als ...«
»Halt die Klappe«, sagte Taru, ohne sich umzudrehen.
Wäre die Lage eine andere gewesen, hätte es Arri wahrscheinlich genossen zu sehen, wie das Gesicht des Schmiedegehilfen von unten herauf rot anlief.
»Die Heilerin«, fuhr Arri erhobenen Hauptes fort, »und Dragosz’ Frau.«
Der Mann strich sich über den Bart und nickte leicht. »Ja, ich habe gehört, Dragosz’ Frau sei sehr jung. Aber«, er lächelte auf eine merkwürdige Art, die freundlich wirkte und Arri dennoch einen kalten Schauer über den Rücken jagte, »ich hatte nicht gewusst, dass du so jung bist.«