Es ging ihr nicht darum, sich mit Rar anzulegen. Sie konnte nur einfach den Himmel nicht aus den Augen lassen. Etwas Merkwürdiges geschah dort. Einzelne graue Finger griffen in den hellen Fleck über dem Tal, griffen gezielt dort hinein. Wie dichter, schwerer Rauch wirbelten Ausläufer der dunklen Wolken heran und drangen in die hellen Flecken hinein. Grau, weiß, schwarz, all das vermischte sich, und dann schoss plötzlich ein Vogelschwarm aus den dunklen Wolken hervor. Als würde er von einem kräftigen Wind nach unten gedrückt, so sauste er herab.
Krähen, dachte Arri, das sind Krähen.
Aber irgendetwas stimmte nicht mit ihnen. Krähen waren doch schwarz. Und auch in diesem Schwarm gab es pechschwarze Krähen, aber mindestens genauso viele waren eher von hellem Grau als von einem tiefen Schwarz, und hier und da glaubte Arri sogar weiße Streifen auf den schwarzen Flügeln aufblitzen zu sehen.
»Das ist merkwürdig«, murmelte Rar. »Vögel sollten sich nicht so verhalten.«
Arri wusste nicht, was sie mehr verblüffte: das, was sich da über ihnen am Himmel abspielte, oder Rars Bemerkung. Sie hatte ihm bislang nicht einmal zugetraut, auch nur ansatzweise über seinen eigenen Schatten hinausschauen zu können.
Die Krähen stiegen wieder hoch, glitten in einer langgestreckten Kurve über das Langhaus und drehten dann in Richtung See ab. Arri konnte sich des verrückten Gefühls nicht erwehren, dass sie etwas suchten. Voller Unbehagen musste sie an den großen Raben denken, der über sie hinweggeflogen war, als sie gefesselt am See gesessen hatte. Ob das in einem Zusammenhang stand?
»Was sind das für seltsame Vögel?«, fragte Rar.
»Krähen«, antwortete Arri ganz leise. »Aber merkwürdige Krähen. Und ...«
»Jetzt kommen sie wieder zurück!«
Er hatte recht. Der Schwarm war in die dunklen Wolken eingetaucht, doch ... als ob sie sie ausspucken wollten, schossen einzelne Vögel wieder daraus hervor. Es dauerte nicht lange, dann folgte auch der Rest.
Die Krähen flogen schneller als eben noch. Sie wirkten ... geradezu aufgeregt.
Bislang hatte sich Arri noch nie Gedanken darum gemacht, ob Vögel etwas fühlten. Diesmal war es anders. Die drohenden Wolken umschlossen das Tal wie die Faust eines zornigen Gottes, der sie jederzeit schließen und sie damit erdrücken konnte. Und die Vögel waren die Sendboten eben jenes Gottes, und sie ...
»Rar!« Das war Tarus Stimme. Dragosz’ Sohn klang so, als bekäme er gleich einen Wutanfall. Und wenn Arri ehrlich war, dann konnte sie ihn sogar ein wenig verstehen.
»Ja.« Rar versetzte ihr einen schmerzhaften Schubser in die Seite. »Los, Drude! Auf jetzt zu Amar und Taru! Dein Zauber verfängt bei mir nicht!«
Arri riss sich von dem Anblick der Krähen los und stolperte gehorsam los. Eine Zeit der Prüfungen, dachte sie. Das alles waren Anzeichen für eine Zeit der Prüfungen. Aber was für Prüfungen, bei allen Göttern, warteten denn jetzt noch auf sie? Was konnte man ihr noch nehmen?
Die Antwort kannte sie selbst: Kyrill. Ihr Kyrill zu nehmen, ihren neugeborenen Sohn zu töten, das würde allerdings die schlimmste Prüfung sein, die man ihr noch auferlegen konnte.
Aber dazu würde es nicht kommen. Nicht, solange ihr Herz noch schlug und ihre Hände noch die Kraft hatten, eine Waffe zu nehmen.
Trotzdem war sie voller Verzweiflung, als sie auf das fröhlich prasselnde Feuer hinter dem Langhaus zustolperte, an dem die anderen Männer standen. Tarus Gesicht hatte eine ungesunde Gesichtsfarbe, irgendetwas zwischen Leichenblass und Lindgrün. Amar wirkte dagegen ganz vergnügt.
Aber das war etwas, das Arri nur am Rande wahrnahm. Ihr Blick richtete sich auf die zwei Karren, die hinter dem Haus abgestellt waren, und ihre Gedanken überschlugen sich. Ochsenkarren, hier? Sie waren aus ebenmäßig bearbeiteten Holzbohlen gefertigt, als Deichsel dienten schlanke, fein geschliffene Stämme junger Bäume, an denen die Geschirre befestigt waren. Sie waren in deutlich besserem Zustand als der Karren, mit dem sie vor Ewigkeiten mit ihrer Mutter über das Land gezogen war, und wurden wie dieser jeweils von einem Ochsen gezogen.
Die Ochsen grasten ganz in der Nähe. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sich Rar gleich zu ihnen gesellen können.
»Warum kommst du nicht?«, fragte Taru. Es klang wie das gereizte Knurren eines Berglöwen. »Hast du immer noch nicht verstanden, worin deine Aufgabe besteht?«
»Doch, natürlich«, beeilte sich Rar zu sagen. »Aber die Drude hat ...«, er deutete nach oben, »sie hat dunkle Kreaturen zu Hilfe gerufen.«
Amar blickte von der Kiste auf, die einer seiner Männer gerade durchwühlt hatte, und blickte nun auch nach oben. Sein Blick verdüsterte sich. »Krähen. Kein gutes Zeichen. Wenn sie sich wie toll verhalten, schlägt das Wetter um.«
»Ich brauche keine Krähen dazu, um das zu sehen«, sagte Taru nervös. »Siehst du denn nicht die Wolken, die dort aufziehen?«
»Die ziehen nicht auf«, berichtigte ihn Amar, »die ziehen sich rund um das Tal zusammen. Das liegt an der besonderen Kessellage hier. Und das ist nebenbei bemerkt ein kleiner, aber nicht unwesentlicher Unterschied.«
»Es soll also an der Tallage liegen, dass über uns der Himmel erst so friedlich wie an einem schönen Sommertag aussieht, und sich dann rings herum dunkle Wolken auftürmen?« Taru schüttelte trotzig den Kopf, und seine Stimme, die ohnehin schon jede Festigkeit verloren hatte, klang nun plötzlich ganz kläglich. »Ich bin zwar kein Schamane«, fuhr er fort. »Aber dass da etwas nicht stimmt, sehe auch ich.«
»Die Götter wollen Arianrhod bestrafen«, mischte sich Rar ein. »Es kann gar nicht anders sein. Damals, als ...«
»Damals?« Amar fuhr zu ihm herum und musterte ihn mit einem Blick, unter dem Rar regelrecht zusammenschrumpfte. »Als man dir erlaubt hatte, einfach das Wort an dich zu reißen?«
Rar blinzelte. »Was ... ich ...«
»Taru hat mir berichtet, du seist der neue Gehilfe eures Schmieds«, unterbrach ihn Amar. »Das ist nicht viel mehr als der Dreck unter meinem Fingernagel.«
Rar öffnete den Mund, schloss ihn dann jedoch wieder und starrte beschämt zu Boden.
»Aber tröste dich«, sagte Amar gut gelaunt. »Wenn du erst einmal selbst die unter allen Völkern so hochgeachtete Stellung des Schmieds bekleidest, kannst du gerne mitreden. Aber bis dahin hast du zu schweigen, wenn unsereins«, er zeigte erst auf sich, dann auf Taru, »miteinander redet.«
Arri nahm die Demütigung des Schmiedejungen nur am Rande wahr. Ihr Blick irrte über die Rückseite des Hauses, die vom Flackern des Feuers in ein unruhiges Licht getaucht wurde. Es sah genauso aus wie von vorne, mit dem gleichen Dach, das tief über die massive Holzwand aus Eichenbohlen gezogen war. Der einzige Unterschied war, dass es hier keine Tür gab.
Was aber war dann mit Larkar geschehen? Arri hatte bis jetzt angenommen, dass er noch im letzten Augenblick hatte entkommen können. Das wäre ihm aber nur möglich gewesen, wenn es irgendwo ein weiteres Schlupfloch in der Hauswand gegeben hätte, durch das er in die Freiheit hätte gelangen können.
»Auch du darfst mit uns reden«, wandte sich Amar deutlich freundlicher an Arri. »Aber wie ich deinem Blick entnehme, bist du an ganz anderen Dingen interessiert.«
»Was?« Arri zuckte zusammen und wandte sich zu dem jungen Hohepriester von Goseg um. »Was hätten wir denn zu besprechen?«
»Vielleicht das, was mit dem Mann geschah, der dich bei deiner dreisten Flucht unterstützt hat«, antwortete Amar. »Mein neuer Freund Taru hat mir davon erzählt. Und es scheint ihn sehr erzürnt zu haben, dass du dich ausgerechnet mit einem seiner ältesten Freunde verbündet hast.«
Arri hätte vor Wut aufschreien können. Amar hatte eine Art, das Wort an sich zu reißen, die sie nicht nur durcheinanderbrachte, sondern die auch deutlich werden ließ, wie wenig sie noch ausrichten konnte.