Aber es ging nicht darum, ob sie sich klein und hilflos fühlte. Eher darum, die Flucht fortzusetzen, die ein vorläufiges Ende gefunden hatte. Und dann Kyrill ...
»Schade«, durchbrach Amar ihren Gedankengang. »Fast hätte ich geglaubt, du seist an einem aufrichtigen Gespräch mit mir interessiert. Aber deine Gedanken sind wohl bei diesem«, er sah Taru fragend an, und dieser beeilte sich zu antworten:
»Bei Larkar.«
»Bei Larkar, ja genau«, er seufzte. »Es heißt, er sei ein Speerträger ohne Speer. Und er humpele.« Er strich sich durch den Bart, eine Geste, die wohl genauso zu ihm gehörte wie die Art, mit seinen Worten das Gegenüber zu verunsichern. »Ist das auch der Mann, dem zuliebe du Dragosz getötet hast?«
Arri starrte ihn entgeistert an. Die Funken des Feuers zu ihrer Linken stoben auf, und als sie hinüberblickte, sah sie, wie zwei Männer in schwarzen Gewändern gebratene Rebhühner von einer Halterung nahmen, die ungewöhnlicherweise aus Metall gefertigt sein musste, sonst hätte sie doch unweigerlich Feuer gefangen.
»Willst du mir nun antworten«, hakte Amar nach, »oder schweigst du zum Zeichen, dass du deine Schuld anerkennst - und Larkar dein Komplize war?«
Arris Kopf ruckte wieder zu Amar herum. Sie und Larkar sollten sich also nicht nur schon länger kennen, sondern auch gemeinsam geplant haben, ihren Liebsten aus dem Weg zu räumen? Das war ... einfach zu ungeheuerlich.
»Ja, natürlich, entschuldige«, sagte Amar, der ihren Blick zum Feuer wohl missgedeutet hatte. »Du musst hungrig sein. Selbstverständlich darfst du aber erst etwas essen, nachdem du deine abscheulichen Verbrechen gestanden hast.«
Arri schnappte nach Luft. Die Formulierung war so ungeheuerlich, dass es selbst ihr das Wort verschlug.
Ganz anders als Taru, der die Rolle des Kleinkinds offensichtlich konsequent weiterzuspielen gedachte.
»Ich fürchte, diese Einladung wird die Drude nicht annehmen können«, sagte er kühl. »Wir werden sie jetzt nämlich wieder in Fesseln legen und mit uns nehmen.« Er wandte sich an Rar. »Ruf Franwar und die anderen. Sag ihnen, dass wir aufbrechen.«
»Nicht ganz so hastig, mein Freund«, erwiderte Amar in fast gelangweiltem Ton. »Ich glaube, wir haben da noch das eine oder andere zu besprechen.«
»Ja, das denke ich auch.« Arris Blick war inzwischen weitergeschwenkt. Ihre Augen hatten die Spuren verfolgt, die die beiden Wagen in den Boden gedrückt hatten. Sie führten nicht nach vorne und um das Haus herum, sondern zu einem Weg zu ihrer Linken, der sanft anstieg und hinter einer Biegung verschwand. Wenn sie es schaffte, sich einen kleinen Vorsprung zu verschaffen, und wenn sie dort dann so schnell wie möglich hinauflief ...
»Nun«, sagte sie, während sie sich dem ungewöhnlichen Hohepriester von Goseg wieder zuwandte. »Ich glaube tatsächlich, dass wir das eine oder andere zu besprechen haben.« Sie machte einen Schritt auf Taru zu, und es musste so viel Entschlossenheit und Abscheu in ihrem Blick funkeln, dass er beinahe wie ein kleiner Junge zurückgewichen wäre, der von seiner Mutter gescholten wird.
»Dieser kleine Aufrührer hier«, sie tippte so schnell auf Tarus Brust, dass er ihre Hand nicht einfangen konnte, »hat sich nicht nur den Anordnungen des Ältestenrates widersetzt. Sondern er hat mich auch noch entführt. Er wollte mich im See versenken.«
»Aha«, machte Amar. Er sah jetzt nicht nur nachdenklich, sondern auch ein wenig ärgerlich aus. »Stimmt das, Taru, der du Dragosz’ Sohn und sein Nachfolger bist?«
»Nun, ich ... ich habe bestimmt nicht ...« Taru warf Arri einen bösen Blick zu und wandte sich dann mit einer übertriebenen Geste von ihr ab und dem Hohepriester zu. »Nichts dergleichen habe ich getan!«
Amar legte den Kopf schief und wartete offensichtlich darauf, dass sich Dragosz’ Sohn näher erklärte. Dass Taru dies aber nicht tat, überraschte Arri überhaupt nicht. Schließlich hätte es vorausgesetzt, dass ihm auf die Schnelle etwas Geistreiches hätte einfallen müssen.
»Dann sei doch bitte so nett, mir zu erklären, was du sonst getan hast«, bohrte Amar nach.
»Ja, aber ich ...«, Taru schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für langwierige Erklärungen«, erklärte er mit erstaunlich fester Stimme.
Amar zog eine Augenbraue hoch. »Und du meinst, das hättest du zu bestimmen, und nicht ich?«
Taru zuckte zusammen. Für einen Augenblick strahlte er einen solchen Zorn und eine solche Angriffslust aus, dass Arri schon glaubte, er werde eine Dummheit begehen.
Wenn sie jedoch erwartete, Amar werde mit Wut darauf reagieren, oder auch in der abscheulichen Art Nors, der seine Gegenüber mit seinen Blicken fast aufgespießt hatte, um seine verkrümmten Hände dann zu heben und sie wie die Krallen eines Raubvogels auf die Lehnen seines aus Korb geflochtenen Stuhles zu schlagen, so sah sie sich getäuscht.
Dagegen stahl sich der lauernde Ausdruck einer Schlange, die auf die passende Gelegenheit zum Zuschnappen wartet, auf das Gesicht des neuen Hohepriesters.
Taru musste das auch bemerkt haben. Aber immerhin brachte er es irgendwie fertig, seinen schlichten Bemerkungen und haltlosen Unterstellungen keine weitere Dummheit hinzuzufügen. Aber weniger gut hatte er seinen Blick und seinen Körper unter Kontrolle.
Er machte einen zaghaften Schritt auf Arri zu, und dann noch einen und noch einen. Dabei lag in seinen Augen ein Flackern, das jede Frau in die Flucht geschlagen hätte. Arri fand, dass ihr im Augenblick gar nichts Besseres passieren konnte, und im Stillen dankte sie Amar dafür, dass er ihr mit seinen beharrlichen Nachfragen unwissentlich zu Hilfe kam.
Sie wich weiter zurück als sie es gemusst hätte, aber auch nicht so weit, dass irgendjemand hätte misstrauisch werden können. Die ganze Zeit über ließ sie Taru nicht aus den Augen. Dass ihre Erregung mit jeder Bewegung zunahm, brauchte sie dabei noch nicht einmal zu überspielen.
Dabei dachte sie jedoch gar nicht an eine mögliche Konfrontation, sondern an den Weg, in den sich die Spuren der beiden Holzkarren eingefressen hatten. Hier, hinter dem Haus, hielt sich nur eine Handvoll Männer auf. Die meisten von ihnen waren damit beschäftigt, die Wagen zu entladen oder die Mahlzeit vorzubereiten, zu der Amar sie eingeladen hatte. Die Einzigen, die sie die ganze Zeit über im Blick hatte, waren Taru und Amar - und Rar, aber der hatte sich schmollend zurückgezogen und sich im Schatten des langen Daches auf dem Boden niedergelassen.
Arri beschloss, das Wagnis einzugehen und ihre letzte Trumpfkarte auszuspielen. »Taru hat genau das getan, was ich gesagt habe«, begann sie. »Aber das aus gutem Grund. Denn es ist mein Sohn Kyrill, der Dragosz’ Nachfolge antreten wird.«
»Dein Sohn?« Amar runzelte die Stirn. »Aber wie soll das geschehen? Er müsste doch noch ein kleines Kind sein.«
»Das ist richtig«, bestätigte Arri. »Aber bei uns Rakern ist die Erbfolge anders geregelt als bei den meisten anderen Völkern. Bei uns ist es der jüngste Sohn, dem die Nachfolge zufällt.«
»Ja, natürlich« Taru verschluckte sich fast, ein Speichelfaden lief sein Kinn herab. Mit einer ärgerlichen Bewegung wischte er ihn beiseite. »Mal ganz abgesehen davon, dass Kyrill ein dreckiger kleiner Bastard ist«, höhnte er, »ein nach Mama schreiender Winzling kann uns wohl kaum anführen!«
»Nun«, sagte Amar. Er gab den Männern, die die Rebhühner vom Feuer genommen hatten, ein fast unmerkliches Zeichen. »Das sind aber wirklich bedenkenswerte Argumente.«
Seine Männer trugen die gebratenen Vögel an ihm vorbei und verschwanden hinter dem Haus. Wahrscheinlich bereiteten sie dort alles für ein besonders reichhaltiges Essen vor. Umso besser. Je mehr Männer Amar wegschickte, umso größer war die Chance, dass ihr die Flucht gelang.
»Wie kommst du darauf, dass ein Sohn deines Vaters ein Bastard wäre!«, wandte sich Amar an Taru.
»Nun, nein, natürlich nicht«, sprudelte Taru hervor. Es sah aus, als bekäme er gar nicht mehr richtig Luft, und auf seinem Gesicht breiteten sich plötzlich rote Flecken aus. »Aber das, was Arianrhod von der Erbfolge sagt, stimmt nicht im Geringsten«, quetschte er mit dem letzten Rest seiner Beherrschung hervor. »Sie ist ja noch nicht einmal eine Rakerin!«