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Amar nutzte die für Taru sowohl schmerzhafte wie demütigende Lage aus, indem er den Jungen mit einem wahren Wortschwall eindeckte, dem der andere einfach nicht gewachsen war. Der Tölpel merkte noch nicht einmal, dass er mit jeder halbherzigen oder dummen Antwort Schritt für Schritt an Boden verlor. Es fehlte nicht viel, und er hätte mit seiner Unbeherrschtheit Dragosz’ Erbe mitsamt des ganzen Pfahldorfes und sämtlicher Bewohner aufs Spiel gesetzt. Dabei schien er noch nicht einmal zu merken, dass es Amar einzig und allein darum ging, den Machtbereich Gosegs auszuweiten - und dabei schon einmal vorzutasten, wie weit er mit Widerstand rechnen musste. Oder eben auch nicht.

Arri spürte eine Wut in sich, der sie keinen Ausdruck verleihen konnte, jedenfalls nicht sofort. Wenn Dragosz jetzt hier wäre, hätte er dieses aufgeblasene Großmaul Amar bestimmt in seine Schranken verwiesen. Aber Taru war nichts weiter als ein kleiner vor Schmerz wimmernder Junge, der gar nicht begriff, dass er, wenn er so weitermachte, sich und sein ganzes Volk Goseg auslieferte.

»Du bist jetzt endlich still!«, herrschte sie Taru schließlich an. »Und sagst kein Wort mehr!«

Taru fuhr zu ihr herum. »Ich soll still sein?« Seine Stimme schrillte wie die eines Kleinkinds, das sich den Kopf angeschlagen hat. »Ausgerechnet du sagst mir das?«, jammerte er. »Hast du denn immer noch nicht begriffen, dass wir dich und dein ekelhaftes Balg ersäufen werden?«

Arri setzte schon dazu an, dem Jammerlappen die passende Antwort zu geben. Aber das erwies sich als unnötig, da Amar es bereits übernahm.

»Ich möchte mich wirklich nicht in euren Familienzwist einmischen«, sagte er in einem Tonfall, der seinen Worten Hohn sprach. »Aber ich weiß wirklich nicht, ob es ratsam ist, die Frau deines Vaters deiner Obhut anzuvertrauen, mein lieber Taru. Vielleicht sollte ich sie besser nach Goseg mitnehmen.«

»Nach Goseg?«, fragten Arri und Taru zugleich, und in ihrer beider Stimmen schwang Entsetzen mit, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Arri hatte Goseg in schlimmer Erinnerung. Die Zeit, die sie dort in einem Gefängnis verbracht hatte, das aus massiven Steinen gebaut war, gehörte zu der schlimmsten ihres Lebens. Und wenn sie dort jetzt wieder landete - dann hätte sie wohl kaum noch die Möglichkeit, irgendwie zu entkommen und Kyrill zu holen, um gemeinsam mit ihm ein neues Leben zu beginnen.

Amar lächelte auf seine überhebliche Art. »Wir werden ohnehin in Goseg Gericht über dich halten, Arri«, verkündete er mit größter Selbstverständlichkeit. »Bis dahin wären wir bereit, dir Gastfreundschaft zu gewähren.«

»Gastfreundschaft?«, ächzte Taru. Er stellte sich wahrscheinlich etwas ganz anderes darunter vor als Amar. »Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Wir können sehr gut auf sie aufpassen. Und wir werden ihr natürlich auch selbst den Prozess machen.«

Amars Augenbraue wanderte nach oben. »Und du wärest tatsächlich auch bereit, mit deinem eigenem Leben dafür zu bürgen, dass ihr kein Haar gekrümmt wird?«

»Kein Haar gekrümmt?« Es war kein Hass mehr, der jetzt in Tarus Augen aufblitzte, als er sich Arri zuwandte, sondern etwas noch viel Schlimmeres. »Ja, natürlich«, gab er sich selbst die Antwort. »Wir wollen dir doch nicht die Haare krümmen, nicht wahr, Drude?«, zischte er. »Wir werden uns schon etwas anderes für dich ausdenken!«

»Das kann ich mir vorstellen«, antwortete Arri. »Aber vielleicht solltest du das mit dem Denken lieber Rar überlassen. Das kann er nämlich deutlich besser!«

Rar als den Klügeren der beiden zu bezeichnen, war allerdings selbst nicht das Klügste - wie Arri in dem Augenblick wusste, als ihr die Worte entschlüpft waren. Aber sie konnte sie nun nicht mehr zurücknehmen.

In Tarus Augen blitzte denn auch die reinste Mordlust auf. Arri fürchtete schon, dass sie den Bogen überspannt hatte und er nun alle Rücksicht fallen ließ, um ihr auf der Stelle den Schädel einzuschlagen - selbst wenn ihn Amar unmittelbar danach zur Rechenschaft zöge, oder später der Ältestenrat.

Stattdessen richtete er sich zum ersten Mal, seitdem sie ihm den Tritt verpasst hatte, zu seiner vollen Größe auf und maß sie mit einem langen nachdenklichen Blick. Zu Arris Unbehagen hatte er kaum noch etwas von einem trotzigen Kind, das man mit einem kräftigen Tritt in den Unterleib zur Weißglut gereizt hatte. Vielmehr wirkte er nun wie ein Mann, der Mordpläne schmiedete.

Ich krieg dich schon noch, las Arri in seinem Blick. Und ich werde viel Spaß daran haben dich zu töten, ohne dass man mich später dafür belangen kann.

»Du wirst schon noch sehen, wem man das Denken überlassen kann, Drude«, spottete er. »Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob dir das gefallen wird.«

Arri blinzelte. Sie kam schlecht damit zurecht, dass sich Taru mal wie ein kleines Kind verhielt, und im nächsten Augenblick seinem Vater in Gestik und Wortwahl so sehr ähnelte, dass man meinen könnte, er hätte doch das Zeug für den ersten Mann unter den Rakern.

Taru schenkte ihr ein kaltes Lächeln und fuhr sich auf typische Dragosz-Art durch die Haare, bevor er sich wieder Amar zuwandte. Seine Körperhaltung wirkte noch immer etwas verkrümmt, aber diesmal verzichtete er darauf, die getroffene Stelle mit den Händen abzudecken.

»Keine Sorge, Amar, Hohepriester von Goseg«, sagte er steif. »Ich persönlich werde dafür sorgen, dass man Arianrhod keinen Schaden zufügt. Und natürlich werde ich auch dem Ältestenrat deinen Wunsch vortragen, dass wir in Goseg Gericht über sie sitzen.«

»Es ist kein Wunsch, Taru, Sohn des Dragosz«, berichtigte ihn Amar. »Es ist schon seit alters üblich, dass der Hohepriester in allen wesentlichen Streitfällen für die tributpflichtigen Dörfer und Stämme Recht spricht.«

»Tributpflichtig«, nahm Taru das Wort auf, aber jetzt fehlte es ihm dann doch an Mut und Erfahrung, um es so zu verwenden, wie Dragosz es getan hätte. »Das ist ... eine Sache, über die wir noch sprechen müssen.«

Amar nickte fröhlich. »Selbstverständlich. Wir müssen ja noch die Einzelheiten aushandeln. Aber einige Dinge sind auch nicht verhandelbar. Wie zum Beispiel Gosegs Gerichtshoheit.«

Sein Blick ließ Taru los und wanderte nach oben. Arri konnte ihm das nicht verdenken. Es war ihr schon die ganze Zeit über aufgefallen, dass sich dort oben ganz merkwürdige Dinge abspielten. Aber bislang war sie nicht in der Lage gewesen, auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden.

Das änderte sich jetzt. Die dunklen Wolkengebilde, die das Tal umschlossen, hatten sich weiter aufgetürmt, und die grauweißen Fetzen, die über dem Tal hingen, schienen sich nicht nur verdichtet zu haben: Sie hatten sich auch farblich verändert.

»In die Wolken fließt helles Blut«, murmelte Amar.

Besser hätte man es nicht ausdrücken können. In die Wolken über dem Tal war tatsächlich ein heller Rotton eingeflossen, wie das manchmal so ähnlich knapp vor Tagesanbruch der Fall war. Aber dies hier, jetzt ... das sah ganz merkwürdig aus. Das Rot floss regelrecht von außen in die Wolken hinein und verwirbelte dort. Woher es aber kam, war nicht erkenntlich.

»Ein Kampf auf Leben und Tod«, murmelte der Hohepriester schaudernd. »Blut, das in Strömen fließt.«

Er riss seinen Blick wieder von den Wolken los und blinzelte, während er die Arme so fest verschränkte, als müsse er sich selbst festhalten. Arri hatte gar nicht gewusst, dass er auch anders als überheblich oder herablassend aussehen konnte. Aber genau das war jetzt der Fall. Er wirkte verunsichert, und die weichen Züge seines jugendlichen Gesichtes machten einen eckigeren und kantigeren Eindruck.

Bevor Arri dazu kam, weiter darüber nachzudenken, machte er ein paar Schritte auf sie zu. Erst kurz vor ihr blieb er stehen und maß sie mit einem Blick, als sähe er sie zum ersten Mal. »Weißt du etwas darüber, Drude?«, fragte er leise.