Lexz zögerte nicht mehr länger. Er griff nach Isanas Hand und zog sie fast unsanft zu sich hoch. Eben noch hatte sein Körper auf ihre Gegenwart ganz eindeutig angesprochen. Doch jetzt war er sich sowohl ihrer verführerischen Nähe bewusst, als auch der Gefahr, die sich spürbar um sie herum zusammenzog.
Isana stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm ins Ohr: »Vielleicht ein wildes Tier?«
Er schüttelte den Kopf. Möglicherweise hatte sie gleich wahrgenommen, was auch ihm aufgefallen war: Raubtiergeruch. Aber er hatte den Toten nicht vergessen, den er entdeckt hatte, kurz bevor er auf Torgon gestoßen war. Die Höhlenmenschen steckten in Fellen - und sie stanken. Ohne Zweifel war das ein Nachteil für sie, falls sie sich unbemerkt anschleichen wollten. Für ihn aber war es ein Vorteil.
»Lass uns nachsehen, was die anderen machen«, sagte er. »Unterwegs können wir ja nach etwas Essbarem Ausschau halten.«
Er bückte sich, um das Schwert aufzunehmen, das er mitsamt der Lederscheide neben sich abgelegt hatte, während er und Isana sich nähergekommen waren. Irgendetwas warnte ihn jedoch, und er packte die Waffe und riss sie mit einem Ruck aus der Lederscheide. Mit einem zischenden Laut fuhr das Schwert durch die Luft und machte einen scharfen Bogen über Isanas Kopf hinweg.
Sie stieß einen erschrockenen Laut aus und taumelte zurück. »Was soll das? Warum erschreckst du mich so?«
Lexz stieß ein nervöses Lachen aus. »Ich wollte nur sehen, ob ich das Schwert noch kraftvoll führen kann, nachdem ...« Er brach ab, befestigte die Lederscheide zwar an seinem Rücken, steckte das einst von Isanas Vater Kenan gefertigte Bronzeschwert aber nicht mehr in die Scheide zurück.
Er war sicher, dass er etwas gesehen hatte. Ein Huschen. Die schnelle Bewegung einer Hand, die nach einer Waffe griff. Oder irgendetwas anderes, das auf einen bevorstehenden Angriff hindeutete.
»Lass uns verschwinden«, raunte er Isana ins Ohr.
Sie nickte, reckte sich abermals empor und küsste ihn auf den Mund. »Sei vorsichtig«, gab sie leise zurück. »Ich habe Angst. Wir müssen schnell zu deinen Freunden. Denn allein ...«
»... haben wir keine Chance«, hatte sie vielleicht sagen wollen.
Lexz erriet den Sinn ihrer Worte im selben Augenblick, als er die Bewegung wahrnahm, die aus der graugrünen Dunkelheit hervorbrach.
Er packte Isana an der Schulter und riss sie zurück, um sie mit seinem Körper zu decken. Und das keinen Augenblick zu früh. Ganz kurz sah er eine dunkle Gestalt, die zwischen den Bäumen hervortrat, und erwartete, dass sie auf ihn zustürzen werde, um ihn mit einer Keule oder einer Steinaxt zu attackieren.
Aber es kam anders.
Er sah, wie ein Bogen gehoben wurde, und dann schnellte auch schon der Pfeil von der Sehne ...
Kapitel 12
Amar war vorausgeeilt, und auch Taru war schon längst im Inneren des Hauses verschwunden, bevor man Arri endlich hineinführte und die schmale Stiege nach oben betreten ließ. Mit jedem Schritt, den sie hochstieg, fühlte sie sich unbehaglicher. Eine merkwürdig gedrückte und angespannte Stimmung herrschte in dem Langhaus, der sie sich selbst dann nicht hätte entziehen können, wenn ihr Amars Worte von vorhin nicht noch im Kopf herumgespukt wären.
»Das ist die falsche Antwort«, hatte Amar gesagt, als sie behauptet hatte, keine Drude zu sein.
Was meinte er damit bloß? Warum sollte das die falsche Antwort sein?
Und was, dachte Arri, ist eigentlich eine Drude?
Darunter mochte jeder etwas anderes verstehen, meist jedoch nichts Gutes. Für Arri war es vor allem ein Schimpfwort, mit dem man sie schon früher öfter bedacht hatte. Nun konnte sie es bald nicht mehr hören.
Die Stufen knarrten unter ihren Füßen, und der Mann, der hinter ihr ging, gab ihr mit einem klatschenden Klaps zu verstehen, dass sie ihre Schritte beschleunigen sollte. Dieser unfreundlichen Aufforderung hätte es nun wirklich nicht bedurft. Mit klopfendem Herzen eilte sie die letzten Stufen empor. Sie hatte nicht vergessen, dass sie Larkar in diesem Haus zurückgelassen hatte. Würde sie nun auch den Speerträger wiedersehen?
Und was war mit den Toten, von denen Amar gesprochen hatte?
Als sie oben angekommen war, wollte sie erst einmal stehen bleiben, um sich zu orientieren. Der mürrische Krieger hinter ihr ließ ihr jedoch nicht die Zeit, sondern stieß sie grob beiseite und betrat neben ihr den einzigen Raum, der sich hier oben unter dem runden Reetdach vor ihnen auftat.
Es war nicht so dunkel, wie sie es in einem fensterlosen Raum erwartet hätte. Mehrere Schalenlampen verbreiteten ein flackerndes, gemütliches Licht, das Arri an die besseren Zeiten in der Hütte ihrer Mutter erinnerte. Aber das war so lange her, dass es schon fast nicht mehr wirklich geschehen schien, und die Erinnerung daran war nicht mehr als ein scharfer, kurzer Stich, der schmerzte, weil sie unwiederbringlich das verloren hatte, was ihr seinerzeit als manchmal langweiliges und zu gemächlich voranschreitendes Leben erschienen war.
Sie brauchte eine Weile, um sich auf den unruhigen, schwachen Schein einzustellen und zu begreifen, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Mehrere Krieger hatten sich unter den Dachschrägen auf den Boden gehockt. Sie starrten ihr auf eine unangenehme Art entgegen, fast so, als missbilligten sie, sie hier zu sehen. Dass ihre Waffen griffbereit neben ihnen lagen, verstärkte das Gefühl der Bedrohung noch, das ihr wie ein schlechter Geruch entgegenschlug.
Arri widmete den Männern einen allenfalls flüchtigen Blick. Viel mehr als Amars Krieger interessierte sie jedoch der Mann, der gefesselt ein Stück weiter hinten auf dem Boden hockte. Als er sie bemerkte, blinzelte er erschrocken, schüttelte dann den Kopf, als hätte er gehofft, sie hier nicht sehen zu müssen, und rang sich dann ein trauriges Lächeln ab.
»Larkar«, flüsterte sie.
Zwar wurde der Laut von dem Raum verschluckt, aber Larkar schien ihn trotzdem verstanden zu haben - vielleicht hatte er ihn auch von ihren Lippen abgelesen. Er nickte ganz leicht und zuckte dann mit den Schultern, wie um anzudeuten, dass er ihr keine große Hilfe sein könne.
Damit hatte Arri auch nicht gerechnet. Trotzdem war sie froh, den Speerträger hier lebend zu sehen. Immerhin hätte es auch sein können, dass er schon längst tot war.
Das allein reichte jedoch nicht, um ihr Herz zu wärmen. Ganz im Gegenteiclass="underline" Sie hatte das Gefühl, kaum noch richtig durchatmen zu können. Die Luft war schwer und tranig - und legte sich auf ihre Gedanken. Das Schlimmste aber schien ihr, dass sie das Gefühl hatte, in eine Gruft getreten zu sein.
Und als erwarte sie hier etwas ganz Fürchterliches.
Dazu passte, dass Amar in einer merkwürdigen Haltung am anderen Ende des Raumes stand. Er hatte die Arme verschränkt und sah ihr auf eine mürrische Art entgegen, wie sie sie eher von Taru erwartet hatte. Von dem jedoch fehlte jede Spur. War er etwa noch unten im Haus? Oder hatte man ihn inzwischen an einen anderen Ort gebracht?
»Niemand hat das Recht, hier zu sein«, sagte Amar zur Begrüßung. »Niemand darf wissen, was du erfahren wirst.«
Arri starrte ihn wortlos an. Neben ihm bemerkte sie einen kostbaren Kupferkessel, der auf einem Holzschemel stand, und in der Dachschräge verschiedene Schalen und Tongefäße, die zumindest aus der Entfernung so aussahen, als seien sie mit Tinkturen, Salben und gestampften Substanzen gefüllt. Es sah fast so aus wie in der Hütte, die man ihr als Heilerin zugeteilt hatte, und in der sie neben Heilkräutern auch noch alles Mögliche andere aufbewahrte, das eine heilende Wirkung versprach. Aber was sollte eine solche Sammlung hier für einen Zweck erfüllen? Wen galt es zu heilen?
Hinter dem Hohepriester war etwas, das er mit seinem Körper zwar fast, aber nicht vollständig abdeckte. Arri hatte den flüchtigen Eindruck von etwas Lebendigem, das sich dort befand. Sie glaubte ein Knacken und Knirschen zu hören. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als werde ihr Herz von einer eiskalten Hand zusammengedrückt.