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Nor nickte fast unmerklich. »Die Himmelsscheibe - und die Hoffnung, dass sie mich wirklich dahin führt, wo ich ein Mittel finden werde, um mein Leben zu retten ...« Seine Stimme erstarb fast. »Aber nicht nur mein Leben, mein Kind. Sondern auch das vieler anderer.«

Die tiefschwarzen Augen schlossen sich ohne Vorwarnung, und dann gab Nor ein schnarchendes Geräusch von sich.

Arri rührte sich nicht von der Stelle. Die Angst vor dem uralten, kranken Mann war so gründlich erloschen, als hätte sie niemals existiert. An ihrer Stelle verspürte sie plötzlich eine mindestens ebenso große, schmerzende Leere.

»Und was erwartest du jetzt von mir?«, flüsterte sie.

»Das ist doch wohl offensichtlich«, sagte Amar hinter ihr. »Wir brauchen die Himmelsscheibe. Und das so schnell wie möglich.«

Arri drehte sich zu dem Hohepriester um. »Und wenn ich nun gar nicht weiß, wo sie ist?«

Amar starrte sie böse an. »Und wenn ich dir das nun nicht glaube?«

»Es ist aber wahr«, sagte Arri. »Frag Nor. Meine Mutter besaß die Himmelsscheibe nicht - wie sollte ich sie da haben?«

Ein Geräusch hinter ihr ließ sie beide zusammenzucken, und Arri wandte sich wieder zu dem uralten Mann um, der sich so grässlich verwandelt hatte.

Wie ein nasser Sack hing Nor in seinem Stuhl. Aber seine Augen waren zu schmalen Schlitzen geöffnet. »Sie spricht die Wahrheit.«

»Aber ich dachte ...«, sagte Amar verwirrt.

»Dass wir sie durch Arri finden könnten?« Nor nickte kaum merklich. »Das wird auch geschehen. Wenn sie sich auf sich selbst verlässt - und wenn sie den bereits Kranken helfen will ... und ihrem eigenen Volk ...« Seine Stimme sank wieder herab, und er brabbelte etwas, das kaum verständlich war. Aus dem winzigen schiefen Mund rann plötzlich ein Speichelfaden hinab.

Arri glaubte schon, er wäre jetzt vollständig verstummt. Doch dann fuhr Nor noch einmal hoch, und diesmal deutete sein verkrüppelter Finger auf sie selbst.

»Frag deine Mutter, Kind«, sagte er. »Vertrau dich ihrem Rat an. Sie wird dich leiten!«

»Aber«, wehrte Arri ab, »meine Mutter ist doch tot!«

Nor nickte. »Ja. Das ist sie. Genau wie ich.«

»Hier rauf!«, schrie Isana.

Sie griff nach Lexz’ Arm und zerrte ihn mit erstaunlicher Kraft in die Richtung, in die der Hügel weiter anstieg, den sie schon zur Hälfte hochgelaufen waren. Wenn jetzt aber jemand mit Pfeil und Bogen auf sie anlegte, dann wären sie verloren. Was für ein Wahnsinn, hier über die Lichtung zu laufen, statt den Weg durchs Unterholz zu wählen.

Doch es ging gut. Zumindest, bis sie die Hügelkuppe erreicht hatten. Es war kein Pfeil, der sie stoppte, indem er sich in einen von ihnen beiden bohrte. Es war ein keulenschwingender, in dunkle Felle gekleideter Mann, der aus dem Gestrüpp brach und sich mit einem kämpferischen Aufschrei auf sie stürzte.

Lexz empfing ihn mit einem Schlag, in den er seine ganze Wut legte. Der Angreifer riss die Keule nach oben, doch er kam zu spät. Das Schwert von Isanas Vater fuhr in seinen Hals und spießte ihn regelrecht auf. Dem Bärtigen quollen beinahe die Augen aus dem Kopf, und dann platzten die ersten Äderchen in seinen Augäpfeln. Mit einem Aufschrei riss Lexz sein Schwert zurück. Aus dem Hals des Mannes pulste ihm eine Blutfontäne entgegen, und plötzlich war alles rotgesprenkelt. Der Bärtige gab einen schrecklichen Laut von sich, der Lexz durch Mark und Bein ging, und torkelte auf ihn zu. Immer mehr Blut sprudelte aus seinem Hals, und Lexz wurde über und über mit dem roten Lebenssaft besudelt.

Isana schrie auf. Lexz wollte sich zu ihr umdrehen. Aber er konnte es nicht. Er war wie gelähmt. Es war nicht der erste Mann, den er im Kampf tötete. Aber noch nie zuvor war es so schnell gegangen, und auf so widerliche Weise. Dabei kannte Lexz den Mann nicht, und sein Schicksal ging ihn auch nichts an. Aber das hier ... so sollte niemand sterben.

Der Mann spuckte Blut. Dennoch brachte er irgendwie die rechte Hand hoch. Lexz wusste nicht, ob ihn ein fürchterlicher Instinkt dazu antrieb, denjenigen in den Tod mitnehmen zu wollen, der ihm das angetan hatte. Es spielte auch keine Rolle. Die Finger des Bärtigen öffneten sich, und Lexz sah, wie die Keule zu Boden fiel.

Dann schien es aber endlos zu dauern, bis sie auf den Boden prallte. Poliertes Eschenholz, dachte Lexz. Sauber poliertes Eschenholz.

Dann endlich schlug die Keule auf dem weichen Erdreich auf.

Der Mann, der sie in den Händen gehalten hatte, hielt sich nach wie vor auf den Füßen. Die Wunde in seinem Hals sprudelte in einem makaberen Rhythmus Blut hervor, doch er selbst tat jetzt einen Schritt nach vorn.

Isana schrie noch einmal, schrill und leidend, und nun, endlich, reagierte auch Lexz. Er brachte das blutige Schwert hoch und drehte sich herum.

Vielmehr wollte er dies tun. Aber da tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein zweiter Angreifer auf.

Nein! Lexz sah, wie sich Isana unter dem Griff des Mannes hinwegduckte, und er erkannte auch die Panik in ihren Augen. Er musste den Kerl aufhalten, sich dann Isana schnappen und gemeinsam mit ihr in die Richtung fliehen, in der er Torgon und Ekarna vermutete.

Es war nur so ein verrückter, flüchtiger Gedanke. Noch bevor er ihn zu Ende gedacht hatte, sprang ihn der Kerl an. Lexz wollte schon ausweichen, mit dem Schwert zuschlagen. Aber der Höhlenbewohner unterlief seine Bewegungen und warf ihn mit purer Körperkraft zurück.

Lexz verlor das Gleichgewicht und stürzte rückwärts in den Mann hinein, den er zuvor so brutal verletzt hatte. Er sah, wie sich der andere wieder umwandte, wie Isana wegzulaufen versuchte - und wie sie der Kerl dann packte, als sei sie ein kleines Kind, und sie sich über die Schulter warf. Isana strampelte wie wild mit den Füßen und hämmerte mit ihren Fäusten auf seinen Rücken ein. Doch er schien es noch nicht einmal zu bemerken.

Das durfte nicht geschehen! Lexz war auf keinen Fall bereit, sich die Frau seines Lebens nehmen zu lassen, kaum dass er sie gefunden hatte. Er stieß den Sterbenden beiseite, der sich noch mit letzter Kraft an ihn klammerte, und versetzte ihm einen brutalen Tritt, als der andere nicht loslassen wollte. Der Mann torkelte beiseite, machte eine unmögliche Kehrtwende - und war plötzlich wieder bei ihm. Mit einem würgenden Laut packte er sich die scharf geschliffene Schwertklinge, und bevor Lexz auch nur im Entferntesten begriff, was er vorhaben mochte, drehte er sie herum.

Lexz spürte, wie ihm der Schwertgriff aus den Fingern gedreht wurde. Der Mann umklammerte die Klinge mit beiden Händen, Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Mit wahren Bärenkräften entwand er Lexz nun endgültig das Schwert. Lexz glaubte zu sehen, wie ihm dabei ein Daumen abgetrennt wurde. Der Kerl ließ sich davon jedoch nicht abhalten und torkelte mit einem gleichermaßen schrecklichen wie triumphierenden Laut samt Schwert davon. Erst nach ein paar Schritten bäumte er sich, immer noch das Schwert umklammernd, wie in einem letzten Triumph auf, dann quoll blutiger Schaum aus seinem Mund und er brach zusammen.

Lexz wollte ihm schon nachsetzen, aber da war bereits der nächste wütende und zähnefletschende Angreifer herangekommen. Lexz duckte sich gerade noch rechtzeitig. Die Keule, mit der ihm der in ein zerrissenes Fell Gekleidete das Gesicht zerschmettern wollte, fuhr mit einem hässlichen Geräusch neben seiner Schulter in die Zweige eines Baumes und rasierte sie ab.

Lexz kam dem zweiten Angriff des Mannes zuvor, indem er auf ihn zusprang und die Hände in sein verfilztes Haar krallte, um seinen Kopf nach vorn zu reißen. Im nächsten Augenblick krachte sein Knie mit solcher Gewalt in das Gesicht des Angreifers, dass er hören konnte, wie irgendetwas darin zerbrach. Der Kerl rang noch einmal mit einem fast komisch klingenden Laut nach Luft, verdrehte dann die Augen und fiel schließlich stocksteif nach hinten.

Lexz achtete gar nicht auf ihn. Seine Gedanken galten Isana, der er unbedingt zu Hilfe eilen musste. Aber er kam nicht weit. Mit einem Aufschrei taumelte er herum - und spürte einen Treffer in den Kniekehlen, der ihn vorwärtstaumeln ließ. Etwas streifte seine Schulter und machte aus seinem noch halbwegs kontrollierten Sturz einen Schlag, der ihn mit solcher Wucht auf den weichen Waldboden schmetterte, dass sich sein gellender Aufschrei in ein halb ersticktes Keuchen verwandelte, während ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Schmerz flackerte wie eine Folge kleiner gelber Blitze über seine Augen und ließ ihn fast blind werden. Im letzten Moment warf er sich noch herum, um dem vernichtenden Sturz die allerschlimmste Wucht zu nehmen.