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Als sich Abdurezak mit den steifen Bewegungen eines uralten Mannes erhob, glaubte sie, das Gespräch sei beendet. Aber da hatte sie sich getäuscht. Der Älteste hatte noch etwas für sie, das schlimmer war als alles andere.

»Dragosz ist inzwischen zu seiner letzten Reise aufgebrochen«, sagte er steif. »Wir haben seinen Abschied aus unserer Welt so begangen, wie es sich gehört. Das ganze Dorf hat sich versammelt, als wir ihn und seine Seele freigaben.«

»Das ganze Dorf ...« Arri bekam keine Luft mehr. »Aber warum ... ich ...«

»Weshalb du nicht dabei warst?« Abdurezak starrte über sie hinweg in Richtung des Seeufers. »Du bist nichts, Arri. Keine Heilerin mehr. Kein Mitglied unserer Gemeinschaft. Und schon gar nicht bist du noch Dragosz’ Frau!«

Arri öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber sie brachte nur einen wimmernden Laut hervor.

»Bevor wir Dragosz auf die letzte Reise schickten, haben wir ihn offiziell von dir entbunden«, fuhr Abdurezak gnadenlos fort. »Und jetzt ist er zu Surkija unterwegs. Zu seiner Frau.«

Mit ein paar schnellen Schritten war Isana an dem glimmenden Schmiedefeuer vorbei, das ihr Vater für eine einfache kleine Reparaturarbeit entfacht hatte: Dies war das Einzige, was Kenan noch zu tun blieb, solange er nicht endlich neues Erz oder eingeschmolzene Metallbrocken zur Weiterverarbeitung auftreiben konnte. Aber das war Isana im Augenblick ganz gleich. Sie balancierte den Wasserkrug am letzten Hindernis vorbei und knallte ihn mit einem harten Ruck auf das raue hölzerne Bord. Ein paar Wassertropfen schwappten über und benetzten ihre Hand.

Goldplättchen, dachte sie, und Krüge mit goldener Verzierung. Was für ein Schwachsinn.

Es waren ganz andere Dinge, die ihr jetzt wichtig schienen. Aber merkwürdigerweise verschwammen sowohl die Ereignisse um Arri wie auch jene um Lexz in ihrem Kopf zu einem undurchschaubaren Brei, und sie konnte an nichts anderes denken als an das Wasser, das sie gerade aus dem Fluss geschöpft hatte. Eigentlich war es auch kein Wunder - schließlich war der Kampf um das tägliche Wasser für sie alle einmal das gewesen, was ihren ganzen Alltag bestimmt hatte.

Sie empfand es nach den harten Zeiten äußerster Trockenheit nach wie vor als etwas Unglaubliches, dass sie hier jederzeit das beste Wasser aus dem Fluss schöpfen konnte, der den See speiste - aber genauso unerträglich schien es ihr, dass sie nach wie vor kaum genug zu essen hatten, um alle Mäuler satt zu bekommen. Die Felder der alten See-Siedler wurden gerade erst wieder urbar gemacht, und das Wenige, das sie wild wachsend auf ihnen vorgefunden hatten, war längst verzehrt.

Die Frage blieb, warum die See-Siedler so dumm gewesen waren, das erstaunlich fruchtbare Land um den See herum aufzugeben - und damit auch ihre Heimat. Es gab viele Vermutungen, aber in Wirklichkeit wusste es wohl niemand. Spuren von Kämpfen hatten sie in der alten, halb zerfallenen Siedlung am Westufer jedenfalls nicht gefunden, allenfalls ein paar alte Steinwaffen, denen aber nicht anzusehen war, wie lange sie schon im Uferschlick lagen.

Isana wusste vielleicht ein wenig mehr als alle anderen, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls beschloss sie, das Rätsel für den Augenblick ein Rätsel sein zu lassen und sich lieber um den Fisch zu kümmern, den sie dem schielenden Fischerjungen heute Morgen hatte abschwatzen können.

Sie konnte von Glück sagen, dass ihr nicht alle Fischer den kleinen Streit wegen der Hunde so übel nahmen wie die Männer, deren Reuse zerfetzt worden war. Es gab da einen kleinen Fischerjungen, der sich nichts aus Reusen machte, sondern die Fische lieber mit einer gefährlichen Knochenharpune abstach. Er brachte zwar meist kein Wort heraus, wenn sie ihn ansprach, hatte aber ganz offensichtlich eine Schwäche für sie - vorsichtig ausgedrückt. So war es ihr ein Leichtes gewesen, ihm ein fettes Rotauge abzuschwatzen. Und mit dem würde sie jetzt ein ganz besonderes Süppchen kochen, das selbst die widerspenstige Arri nicht verweigern konnte.

Der Muschelvorhang klapperte, und Rar trat aus der Schmiedehütte hervor, die von den alten Seesiedlern halb in eine Höhle eingelassen worden war. Isana hatte nie verstanden, warum die Siedler die Schmiede am Rande der Hügelkette betrieben hatten, und damit am Fluss und nicht am See. Das wäre in ihren Augen schon allein wegen der kürzeren Wege wesentlich praktischer gewesen. Im Augenblick war es ihr aber ganz recht, dass ihr Vater die Schmiede an ihrem alten Standort übernommen hatte, da sie dadurch Taru und seinen Freunden nicht dauernd über den Weg lief.

Na ja, so ganz stimmte das leider auch nicht. Ausgerechnet Rar, der größte Dummkopf von allen, lebte ja hier mit ihr und ihrem Vater zusammen. Und ganz wie es seine Natur war, sah er jetzt blinzelnd zu ihr hinüber und schlug die Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu verbergen, das um diese Tageszeit alles andere als angemessen war. Isana verzog missbilligend die Mundwinkel. Ihr Vater hatte den kräftigen Jungen wohl wegen seiner beeindruckenden Muskeln zu sich genommen, um ihn als Schmiedegehilfen - und vielleicht sogar als Bronzegießer - auszubilden. Doch Rar verhielt sich so, als begriffe er gar nicht, was das bedeutete. Der Schmied war einer der angesehensten Männer der Gemeinschaft, und wer es geschickt anstellte, würde auch als Gehilfe niemals Hunger leiden müssen.

»Och«, machte Rar, als er das in einem besonderen Sud eingeweichte Rotauge sah, neben dem Isana den Wasserkrug abgestellt hatte. »Ein fetter Fisch! Der kommt mir gerade recht. Ich habe harte Zeiten hinter mir und schon viel zu lange nichts Vernünftiges mehr gegessen.«

»Ich auch nicht«, gab Isana heftig zurück. »Dafür hab ich ein paar Kinder und Alte behandeln müssen, die sich noch immer wegen des kräftigen Bauchgrimmens krümmen.«

Rar winkte ab und trat näher. »Alles Kleinigkeiten. Oder hast du schon vergessen, welche Abenteuer ich und Taru wegen deiner Arianrhod erlebt haben?«

»Es ist nicht meine Arianrhod«, widersprach Isana. »Und deine Märchen kenne ich nur zu gut. Du redest ja schon seit Tagen von nichts anderem.«

»Ach was«, winkte Rar. »Ich hab dir ja noch nicht einmal die Hälfte erzählt. Dieser Krieger aus Goseg, der sich mir in der Weg stellen wollte ...«

»Nur ein Krieger?«, fragte Isana scheinheilig. »War es nicht ein ganzer Tross?«

Rar blinzelte überrascht. »Ja, natürlich. Es waren vier, fünf - eben ganz viele. Aber der eine ist mir in den Weg getreten ...«

»Der war bestimmt riesengroß«, sagte Isana scheinbar beeindruckt. »Und er musste sich bücken, um auf dich herunterzusehen.«

Rar seufzte. »Mädchen. Von nichts eine Ahnung, aber immer ein dummes Sprüchlein auf den Lippen.« Er spannte seine Armmuskeln an. »Siehst du das? Natürlich bin ich der Größte und Stärkste. Wenn dir mal jemand dumm kommt, dann freust du dich bestimmt, wenn ich dir beispringe!«

Isana klimperte mit den Augen. »Ja. Weil uns Mädchen ja gar nichts einfällt, um Männer zu verwirren.«

Rar starrte sie an, und Isana konnte ihm ansehen, wie er um eine Antwort rang. Schließlich schüttelte er jedoch den Kopf, und als sei das Thema damit auf angemessene Weise erledigt, sagte er: »Machst du mir den Fisch fertig? Ich habe Hunger!«

»Den hatte der kleine Prytio auch«, antwortete Isana böse. »Jetzt ist er tot.«

»Dann kann er mir wenigstens nichts mehr wegessen«, stellte Rar fest. Als ihn Isana wegen der vorlauten Bemerkung anfahren wollte, winkte er jedoch ab. »Schlimm, schlimm, dass diese verfluchte Drude so viele von uns vergiftet hat. Aber ich sag es ja immer wieder: Man muss sehr vorsichtig mit allem sein, was man isst. Auch wenn man ein kleiner Junge ist und Prytio heißt.« Er leckte sich auf eine Art über die Lippen, die Isana einfach widerlich fand. »Außerdem habe ich jetzt wirklich Hunger.«

Er machte einen Schritt nach vorn und streckte die Hand nach dem Holzgefäß aus, in den der blaugrün schimmernde Fisch eingelegt war - aber Isana war schneller. Flink wie eine Katze fischte sie sich das glitschige Rotauge aus dem Sud und tat zwei, drei Schritte zurück, bevor sie mit ihrem Fang stehen blieb und den Kopf schräg legte. »Du gehst jetzt besser und tust das, was dir mein Vater aufgetragen hat!«