»Das Gleiche wie jetzt«, antwortete die Gestalt.
Zakaan nickte. Es war genau die Art von Antwort, mit der er hatte rechnen müssen.
»Schickt dich Ygdra?«
Die Gestalt antwortete nicht, und eigentlich war das Antwort genug.
Nein, Ygdra, die Göttin der Fruchtbarkeit und des Lebens hatte sie nicht geschickt. Das hätte sie auch gar nicht gekonnt, denn dieses Wesen da vor ihm stand nicht auf der Seite des Lebens.
Sondern auf der Seite des Todes.
»Bist du gekommen, um mich zu holen?«
Das Licht veränderte sich, und mit ihm die Gestalt und alles um ihn herum. Es war eine erstickende Düsterkeit, die damit einkehrte, und Zakaan hatte das Gefühl, als streife ihn die kalte Hand des Todes.
»Ich hole dich nicht«, antwortete das mädchenhaft zarte Wesen endlich. »Und ich kann dir auch nicht sagen, wann die Zeit für dich gekommen ist.«
Zakaan nickte, er fühlte sich auf eine fast absurde Art erleichtert, denn schließlich hatte er schon längst mit seinem Leben abgeschlossen. Zumindest hatte er das geglaubt. Aber vielleicht stimmte es auch nicht.
»Ich bin aus einem ganz anderen Grund hier«, fuhr die Gestalt fort.
Zakaan nickte abermals. Es gab viele Wesen, die die Welt der Toten bevölkerten, und etliche von ihnen waren so unvorstellbar grässlich, dass sie noch nicht einmal einen Namen hatten. Andere wiederum waren von lichter, kaum wahrnehmbarer Gestalt. Ganz anders als dieses Mädchen, das etwas gleichermaßen Zartes wie Unnachgiebiges besaß. Zakaan war sich jetzt sicher, wen er da vor sich hatte: ein Wesen, das die Altvorderen Todessyre genannt hatten.
»Du musst dich entscheiden, ob du stark genug bist, dich der Wahrheit zu stellen«, fuhr die Todessyre fort.
Stark genug? Zakaan hätte beinahe laut aufgelacht. Er war Zeit seines Lebens stark genug gewesen, jede Art von Wahrheit zu ertragen. Aber er hatte oft damit gerungen, wie viel er davon an sein Volk weitergegeben konnte.
»Was weißt du?«, fragte er, und seine Stimme hatte plötzlich wieder die alte Stärke und Kraft, die in alten Zeiten sogar das rituelle Trommeln am Dorffeuer übertönen konnte, wenn er es darauf angelegt hatte. »Kannst du mir sagen, ob wir wirklich Urutark vor uns haben? Ob unsere Reise dort endet?«
»Eure Reise wird nicht dort enden, wo ihr Urutark vermutet«, antwortete die Todessyre rätselhaft. »Sondern dort, wo eure Ahnen beheimatet waren.«
»Ich weiß schon lange, dass wir dorthin müssen«, sagte Zakaan ungeduldig. »Aber niemand hat mir bislang genau sagen können, wo Urutark wirklich zu finden ist!«
Die Todessyre nickte. »Das liegt in der Natur der Wahrheit. Aber auch in diesem Punkt weißt du schon längst, was dir den Weg weisen wird: die Himmelsscheibe.«
Zakaan hatte erneut das Gefühl, als streife ihn eine kalte Hand. »Die Himmelsscheibe, von der uns Dragosz nach seiner ersten Reise in den Westen berichtet hat?«
»Kennst du sonst noch eine Scheibe, die den Himmel in das Metall zu bannen vermag?«
Zakaan runzelte die Stirn. »Natürlich nicht. Aber warum sollte gerade die Himmelsscheibe über das Wohl und Wehe unseres Volkes entscheiden?«
»Ich soll dir mehr sagen, als du schon selbst weißt?« Die Todessyre schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Und das weißt du auch ganz genau. Ich kann dir nicht mehr sagen, als du selbst tief in deinem Herzen schon weißt - oder zumindest erahnst.«
Ja. Das war das Wesen all dessen, was ihn erwartete, wenn er vom Fleisch der Götter geleitet ins Schattenreich geglitten war.
»Die Himmelsscheibe«, fuhr er dennoch fort, »soll aus Bronze und Gold bestehen. Doch unsere Vorfahren kannten das Geheimnis der Metallherstellung noch nicht. Wie kann sie uns also von ihnen hinterlassen worden sein?«
»Das, was dir deine Vorfahren hinterlassen haben, trägst du um den Hals«, antwortete die Todessyre. »Es ist der Rentierknochen, auf dem die alten Jäger das Geheimnis der jährlichen Rentierwanderungen eingeritzt haben.«
Zakaans Hand fuhr unwillkürlich zum Hals und tastete nach dem flachen Knochen, auf dem die Altvorderen mit scharfen Steinen die für sie überlebenswichtigen Kenntnisse in Form von Zeichen eingeritzt hatten. »Die Himmelsscheibe ist für uns also das, was für unsere Stammväter dieser abgewetzte Rentierknochen war?«
Er bekam keine Antwort. Aber er wusste sie ja selbst. »Die Himmelsscheibe soll uns präzise sagen können, wann wir säen müssen, und wann wir die Ernte einzufahren haben«, sagte er. »Zumindest ist es das, was uns Dragosz darüber berichtet hat. Aber wie kann sie uns helfen, unseren Platz auf dieser Welt zu finden?«
Die Todessyre lachte hell auf. »Du stellst dir eine Frage und gibst dir selbst die Antwort darauf. Und du merkst es noch nicht einmal.«
Zakaan starrte sie verblüfft an. Er selbst sollte sich die Antwort gegeben haben? Aber das war doch unmöglich.
»Dragosz«, setzte er an, um sich von einer anderen Richtung an das scheue Wild der Wahrheit anzupirschen, »hat Lea getroffen, die ihm vom Geheimnis der Himmelsscheibe berichtete.«
»Das stimmt«, bestätigte die Todessyre. »Dragosz hat die Ahnen getroffen.«
»Nicht die Ahnen«, widersprach Zakaan. »Sondern Lea, die Hüterin der Himmelsscheibe. Und ihre Tochter Arianrhod.«
»Doch: die Ahnen«, beharrte die Todessyre. »Du hast die Ahnen gerufen, damit sie dir helfen. Und die Ahnen haben dich erhört.«
Das wäre eine gute Nachricht gewesen, hätte sie nur irgendeinen Sinn ergeben. Aber das tat sie nicht. Zumindest nicht in Zakaans Ohren.
»Die Stammväter sind mir immer wohlgesonnen gewesen«, antwortete er deshalb möglichst unbestimmt. »Und dafür bin ich ihnen dankbar.«
»Es ist gut, dass du ihnen dankbar bist.« Durch die Todessyre ging ein leichtes Sirren, das wie ein Zeichen von Ungeduld wirkte. »Aber es ist nicht gut, dass du sie nicht erkennst, wenn sie sich in anderer Form zeigen, als du erwartest.«
»Als ich erwarte?« Zakaan dachte angestrengt nach, aber immer, wenn er einen Gedanken - oder zumindest eine Idee - zu fassen glaubte, entwischte er ihm wieder. Es war sinnlos. Er musste es anders versuchen. »Dragosz hat uns alles erzählt, was er von Lea und der Himmelsscheibe wusste.«
»Und er hat euch auch von ihrer Tochter erzählt«, sagte die Todessyre. »Er hat euch alles Wichtige über sie berichtet - ohne selbst auch nur zu ahnen, dass er dir damit das Wissen in die Hand gegeben hat, um dein Volk zu retten - jetzt.«
Zakaan spürte eine Woge heißen Zornes in sich hochsteigen. »Ich kenne diese Lea nicht und weiß von ihrer Tochter kaum mehr als den Namen. Was also sollte mir das weiterhelfen?«
Als er auch diesmal wieder keine Antwort bekam, fügte er lauter hinzu: »Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst! Arianrhod ist für uns eine Fremde, sie hat nichts mit unserem Volk und unseren Ahnen zu tun! Wie sollte uns dann ausgerechnet diese Fremde helfen, unser Volk vor dem Untergang zu bewahren?«
»Bedauerlich«, sagte die Todessyre, und es klang beinahe so, als spucke sie das Wort voller Verachtung aus. »Erst näherst du dich der Wahrheit - und dann entfernst du dich wieder Stück für Stück von ihr. Du hast nicht im Geringsten verstanden, was dir die Ahnen sagen wollen. Du hast immer noch nicht begriffen, dass es ausgerechnet Arianrhod sein wird, die über euer aller Schicksal entscheidet.«
Zakaan ballte die Hand zur Faust. »Dann sag es mir!«, verlangte er. »Sag mir, was ich wissen muss, um mein Volk zu schützen!«
Die Todessyre schien sich ein weiteres Stück zurückzuziehen, und Zakaan spürte, dass er schon im Begriff war, sie zu verlieren. Er musste sich zusammenreißen. Wut war etwas, das einem im Kampf helfen konnte, aber nicht hier und nicht jetzt.
Er atmete tief ein und aus und versuchte seinen Mittelpunkt zu finden. Es gelang ihm allerdings nur sehr unvollkommen. Doch immerhin spürte er, wie ihn die Wut mit jedem Atemzug ein Stück mehr verließ, und wie eine Ruhe in ihn einzuströmen begann. »Bitte«, flüsterte er. »Bleib bei mir. Rede mit mir!«