In diesen unteren Bereich tauchte gerade der Krähenschwarm ein, als er am Hügel entlang der abfallenden Baumkronen vorbeistrich.
»Soll ich dir helfen«, hörte er die dünne, unsichere Stimme des Jungen, und er begriff, dass er stärker schwankte, als es ihm selbst aufgefallen war. Mit mühsamen, zittrigen Bewegungen setzte er einen Fuß vor den anderen und zwang sich zu einer gleichmäßigen Schrittfolge, bis er die große Ulme endlich erreichte, die er sich schon vorher zum Ziel auserkoren hatte. Er streckte die rechte Hand vor und stützte sich an ihrem rissigen Stamm ab. Jeder Baum konnte Kraft an denjenigen abgeben, der es verstand, seine ureigenste Energie zu erfühlen.
Zakaan war dazu imstande. Er legte auch noch die linke Hand auf den Stamm, und augenblicklich hatte er das Gefühl, als durchströme ihn durch die Rinde hindurch jene uralte, stets verlässliche Kraft, die ihn sein ganzes Leben über getragen hatte, wenn es darauf ankam: Die Kraft, die in allem Natürlichen steckte und sich jedem anbot, der offen für sie war.
Er atmete tief ein und aus, und versuchte dann mit der linken Hand nach dem Eichenstock zu greifen, den er an die Ulme gelehnt hatte: Aber Bakan war schneller. Zakaan hatte gar nicht bemerkt, dass der Junge leichtfüßig herangelaufen war. Doch jetzt spürte er, wie ihm der Kleine wie selbstverständlich den Stock in die Hand drückte und so lange wartete, bis sich seine gichtigen Finger darum schlossen, bevor er rasch wieder einen Schritt zurücktrat. Zakaan löste seinen Blick einen Herzschlag lang von dem Vogelschwarm und schenkte dem Jungen ein dankbares Lächeln - was aber eher wie eine Grimasse wirkte, denn Bakan huschte rasch ein paar weitere Schritte zurück, und trat dann mit den unruhigen Bewegungen eines aufgeregten Kindes von einem Fuß auf den anderen.
Zakaan nahm das nur am Rande wahr. Seine Aufmerksamkeit war auf den kleinen Teil des Lagers gerichtet, den er von seinem jetzigen Standort aus einsehen konnte. Nicht, dass dort viel zu sehen gewesen wäre: Die einfachen Unterkünfte, die Ragok in den letzten Tagen hatte errichten lassen, bestanden nur aus ein paar Stämmen, die ohne großen Aufwand aneinandergelegt und mit ihren restlichen Stricken und dem dünnen Gezweig notdürftig verzurrt worden waren, bevor die Männer und Frauen sie mit Ästen, Tannenzweigen und großen Blättern mehr schlecht als recht abgedichtet hatten. Von hier oben aus war nicht viel mehr als die Ansammlung ungleichmäßiger grüner Dächer zu erkennen, die sich kaum von ihrer ebenfalls grünen Umgebung abhoben, und Rauch, der irgendwo aus weiterer Entfernung über das Lager strich. Im Augenblick hielten sich dort unten sicherlich nur wenige Menschen auf, die meisten würden die nähere und weitere Umgebung nach etwas Essbarem absuchen, würden Beeren, Pilze, Nüsse und Brennholz sammeln oder auf der Jagd nach den wenigen Tieren sein, die sie durch ihre Anwesenheit hier noch nicht aufgescheucht hatten.
Den Krähen konnte das gleich sein. Aber irgendetwas an dem Lager schien sie doch anzulocken, denn sie hielten so zielsicher darauf zu wie eine Horde Jäger auf eine Bärenhöhle. Und nicht nur das: Kurz vor dem Lager teilte sich der Krähenschwarm. Die grau-schwarzen Nebelkrähen flogen tief und dicht über den Dächern der einfachen Hütten hinweg, während die tiefschwarzen Rabenkrähen abdrehten, um in einer steilen Kurve aufzusteigen und in eine tief hängende Wolke einzutauchen.
»Das ist unmöglich«, murmelte der Schamane. Er hatte fast schon vergessen, dass ihn ein fünfjähriger dürrer Knabe mit großen Augen anstarrte, er wusste kaum noch, wo er war, und schon gar nicht spürte er seine entzündeten Gelenke, die ihn heute Morgen mal wieder besonders gequält hatten. »Das ist kein Zeichen der Stammväter. Das sind die Götter selbst, die zu uns sprechen.«
Er stieß sich von dem Baumstamm ab und stürmte so schnell los, als wäre er selbst noch ein Junge. Sein rechter Fuß verhakte sich in einer Wurzel, und hätte er sich nicht auf den Stock stützen können, wäre er unweigerlich gestürzt. Er spürte die gleiche Art von Erregung in sich wie damals, als sie den Entschluss zur großen Wanderung getroffen hatten. Auch damals hatten ihm die Götter ein Zeichen gesandt, und auch damals war es ein Vogelschwarm gewesen. Doch anders als jetzt waren es keine Krähen gewesen, sondern verschiedene Vögel, die nach Westen zogen und dabei zu einem teilweise halsbrecherischen Flug über ihre Häuser und Felder hinweggesaust waren, so, als wollten sie sie auffordern, es ihnen gleichzutun.
»Wir müssen zu Ragok«, stieß Zakaan hervor, als er den Steinkreis erreichte. Sein Blick fiel auf das fast erloschene Feuer inmitten des notdürftig eingerichteten Heiligtums, und dann auf die Schale daneben, in der sich die ganz besondere Pilzmischung befand. Mit ihrer Hilfe hatte er die Götter angerufen, und sie hatten ihm ein Zeichen gesandt. Jetzt musste er handeln.
»Du willst zu unserem Herrscher?«, fragte der Junge schüchtern. »Aber ich glaube, er ist gar nicht da. Er und die anderen Männer wollten jagen gehen. Oder vielleicht wollten sie auch nach Lexz und den anderen suchen. Die sind ja immer noch nicht zurück. Weißt du vielleicht, wo sie sein könnten?«
Zakaan schloss einen Herzschlag lang die Augen. Er hätte es niemals zugegeben - und schon gar nicht vor dem Jungen -, aber Bakans Frage traf ihn wie der schnell geführte Streich eines Bronzeschwerts. Es war nicht ungewöhnlich, dass ein Kundschaftertrupp für ein paar Tage verschwunden blieb, bis er wieder ins Lager zurückkehrte. Doch diesmal war es anders. Schon kurz nachdem Lexz, Torgon und die anderen aufgebrochen waren, hatte Zakaan ein ungutes Gefühl gehabt. Es war ihm, als hätte eine dunkle, dämonische Macht ein unsichtbares Netz über die Gruppe geworfen, in dem sie sich mit jedem weiteren Schritt tiefer verfingen, gleichgültig, welche Richtung sie einschlugen. Die Wälder hier waren fruchtbar und reich an Leben, von ausreichend Regen bewässert und von einer nicht zu heißen Sonne verwöhnt. Überall blühte und gedieh es, so als hätte es hier niemals zu heiße Tage gegeben, und als würde hier alles seit Ewigkeiten einen trägen, zufriedenen Gang gehen. Doch das täuschte. Unter der Oberfläche verbarg sich etwas ganz und gar anderes, etwas, für das er keine Worte hatte - vielleicht, weil es so fremd war, dass bisher noch niemand in seinem Volk darauf gestoßen war.
Bis auf Lexz und seine Gefährten. Sie hatten etwas entdeckt, dessen war er sich sicher - oder besser gesagt: Sie waren von etwas entdeckt worden, das sie sich ebenso einverleiben wollte, wie es eine Eidechse mit ein paar leichtsinnigen Insekten tun würde.
»Bist du eingeschlafen?«, fragte Bakan vorsichtig.
Zakaan riss die Augen wieder auf. Sie brannten, als wären sie von dem unbarmherzig grellen Sonnenlicht der letzten Zeit vollkommen ausgetrocknet worden. Und dann spürte er mit brutaler Deutlichkeit die Erschöpfung, die durch den Genuss der Pilze nur oberflächlich in den Hintergrund gedrängt worden war.
»Nein ...«, stammelte er mit rauer, belegter Stimme. »Ich bin nicht eingeschlafen. Ich habe nur über deine Frage nachgedacht.«
»Wo Lexz ist?«