Doch im Augenblick interessierte ihn nur eines: Wo waren Lexz und die anderen?
»Mein Sohn«, sagte Ragok, als hätte Zakaan diese Frage laut ausgesprochen, »ist nicht aufgetaucht. Auch keiner der anderen. Kannst du mir etwas dazu sagen, Schamane?«
Zakaan schluckte hart. Er hätte sogar recht viel dazu sagen können, doch er fürchtete, nicht die richtigen Worte zu finden. Ragok der Bezwinger klang ruhig und besonnen, und wie er so dastand und ihm fast versonnen entgegensah, hatte er etwas von einem tapsigen Bären. Doch Zakaan wusste, wie sehr dieser Eindruck trog. Der Gebieter über einen Haufen Verlorener, die schon mehr als einmal nur knapp dem völligen Untergang entgangen waren, hatte lediglich gelernt, sich zu beherrschen, wenn es darauf ankam. In seinem Inneren brodelte es jedoch, wie der Schamane spürte - und er konnte es ihm nicht einmal verdenken.
»Ich weißt nicht, wo dein Sohn ist«, antwortete Zakaan mit fester Stimme. »Aber ich spüre, dass er noch lebt.«
Ragoks Blick verfinsterte sich, und jetzt war er ganz die alte Geierkralle, wie ihn Granartara und ein paar andere Holzköpfe hinter seinem Rücken nannten. »Bist du dir da sicher?«
Der Schamane lauschte in sich hinein, bevor er zu einer Antwort ansetzte. Er wusste nicht, ob es an der entsetzlichen Situation lag, die er hier vorgefunden hatte, oder daran, dass Ragok kurz davor schien, aus der Haut zu fahren: Aber er hatte das Gefühl, dass die Verbindung zu Lexz viel schwächer war als noch heute Morgen.
»Alter Freund, schläfst du mit offenen Augen?«, fragte Ragok. Seine Stimme klang überhaupt nicht drohend, sondern eher besorgt - und das war schlimmer, als wenn er ihn angebrüllt hätte.
Ich weiß nicht, was mit deinem Sohn geschehen ist, hätte ihm Zakaan am liebsten entgegengeschleudert, aber ich fürchte, er ist in Gefahr. In großer Gefahr.
Statt ihm aber diesen Unsinn entgegenzubrüllen, der vielleicht ehrlich, aber vollkommen fehl am Platz gewesen wäre, nickte Zakaan nur knapp. »Dein Sohn lebt«, versicherte er, und es überraschte ihn selbst, wie kraftvoll und überzeugend seine Stimme klang, »und wir sollten alles tun, dass das auch so bleibt.«
In Ragoks Blick veränderte sich etwas. Er richtete sich gleichzeitig nach innen und in die Ferne. »Wenn Dragosz ...«, begann er.
Zakaan schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube nicht, dass ihm Dragosz gefährlich geworden ist. Und auch kein anderer der Abtrünnigen.« Zumindest noch nicht, fügte er in Gedanken hinzu.
»Eher ist es dieser Wald hier«, Zakaan deutete in die Richtung, in der die Krähen verschwunden waren, »dort.«
»Der Wald?« Ragoks Gesicht verzog sich, als hätte er auf etwas Saures gebissen. »Wie soll denn ein Wald jemandem gefährlich werden können?«
Zakaan legte den Kopf schief. Er musste Zeit gewinnen. Warum er das mit dem Wald gesagt hatte ... dafür musste es einen Grund geben. Aber er hatte ihn selbst noch nicht in sich aufgespürt. Es war so wie immer, wenn er das Gefühl hatte, die Ahnen sprächen aus ihm - diejenigen von ihnen, die aus dem Reich der Schatten über das Schicksal der Lebenden wachten, um sicherzugehen, dass ihre Linie nicht ausstarb.
»Ich habe dich etwas gefragt, alter Freund«, flüsterte Ragok. Seine Augen verengten sich, und plötzlich sah er seinem Vater so ähnlich, dass es Zakaan ganz weh ums Herz wurde. Nicht Ragok war sein alter Freund, sondern dessen Vater war es gewesen. Aber dessen Gebeine waren mit Sicherheit schon längst in der Schlucht vermodert, in die er bei einer waghalsigen Jagd damals gestürzt war.
»Kein Wald und kein wildes Tier schießt mit Pfeil und Bogen«, Ragoks Stimme wurde eine Spur schärfer, »also was willst du mir sagen, Schamane?«
Unglücklich verschränkte Zakaan die Arme vor der Brust. Er spürte, dass er gleich anfangen würde zu schwanken; das wäre jetzt aber gar nicht gut. Er musste es zu Ende bringen. »Die Zeichen der Götter sind verwirrend. Du solltest mir etwas Zeit geben, damit ich sie deuten kann.«
Ragok schüttelte den Kopf. »Nein, Schamane. Gerade Zeit kann ich dir diesmal nicht geben. Wenn du sagst, dass es der Wald ist, der Lexz und den anderen gefährlich wird - dann sollten wir dort nachsehen.«
Zakaan nickte. Die Entscheidung kam nicht ganz unerwartet. Dafür trafen ihn die nächsten Worte vollkommen unvorbereitet.
»Wir werden einen Trupp zusammenstellen, der nach ihnen sucht«, fuhr Ragok fort. »Und ich werde ihn anführen.« Er zögerte kurz, dann nickte er. »Und du wirst uns begleiten, Schamane.«
»Frag deine Mutter, Kind«, hatte Nor gesagt. »Vertrau dich ihrem Rat an. Sie wird dich leiten!«
Und plötzlich hatte Arri das Bild des Zauberschwerts vor Augen, das sie von ihrer Mutter Lea geerbt hatte. Es war eine außergewöhnliche Waffe, gerettet aus einem untergegangenen Land. Das Material, aus dem es in einer Schmiede mitten in der Tempelanlage ihrer Ahnen geschmiedet worden war, war härter als Kupfer und Bronze, viel härter. Wenn seine Klinge auch nur mit mittlerer Kraft auf eine Bronzeklinge traf, splitterte diese weg, wenn nicht beim ersten Mal, dann doch spätestens beim zweiten oder dritten Schlag. Das Schwert hatte Arri schon mehr als einmal das Leben gerettet, weil sie sich damit einen Vorteil hatte verschaffen können, der über Tod und Leben entschied ...
Und es war noch viel mehr als das. Lea hatte es ihr in einer sternklaren Nacht erklärt, bei dem einzigen Mal, als sie mehr als nur ein paar dürre Worte über das Land verloren hatte, in dem sie selbst noch geboren worden war.
Außer dem Schwert hatte Lea noch anderes aus ihrer alten Heimat retten können, Kleinodien, geheimnisvolle Substanzen, die zu heilen oder zu verderben verstanden: und das Wissen um die Himmelsscheibe. Eine uralte Weisheit lag in ihr verborgen, das Wissen um den Verlauf der Jahreszeiten, der in engem Zusammenhang mit dem immerwährenden Reisen des aufstrebenden Sonnengottes und der gütigen Mondgöttin stand, dem Sinnbild für den Herrscher und die Heilerin, wie es auch die Raker kannten.
Die Himmelsscheibe war der Anker ihrer alten Kultur gewesen: Doch sie besaß sie nicht mehr. Nor hatte es nicht glauben wollen, und doch war es die Wahrheit.
Alles, was sie besaß, war das Zauberschwert. Auf seinem Knauf hatte man ein wunderschönes Abbild der Himmelsscheibe eingelassen.
»Es vermittelt eine Ahnung davon, welche Geheimnisse die Himmelsscheibe birgt«, hatte ihr Lea einst gesagt. »Aber mehr auch nicht.«
Arri hatte sich oft genug den kleinen, zierlichen Schwertknauf angesehen, um zu wissen, dass ihre Mutter recht gehabt hatte. Es war beeindruckend und rührte ihre Seele, aber es würde keine Hilfe dabei sein, Urutark zu finden, die Urheimat sowohl der Raker als auch der Menschen, die in und um Goseg lebten.
Und trotzdem war das Schwert einmalig, eine unfassbare Arbeit, weit von dem entfernt, was der Schmied der Flussleute zustande gebracht hätte - der nebenbei fast bei einer Explosion umgekommen war, als er versucht hatte, mit Leas Hilfe das geheime Material herzustellen, aus dem das Schwert gefertigt worden war.
Ob Dragosz sie nur deshalb aufgenommen hatte? Ob er nur Liebe geheuchelt hatte, um an ihr altes Wissen zu kommen?
Der Gedanke war plötzlich da, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Sie hing in ihren Fesseln, halb bewusstlos vor Erschöpfung und ohne zu wissen, wie es mit ihr weitergehen werde: Ob Amar sie mit nach Goseg nähme, oder ob man sie gleich hier richtete. Die Geräusche um sie herum waren zu einem dumpfen Mischmasch herabgesunken, und ob es hell war oder dunkel, dies nahm sie in der fensterlosen Hütte ohnehin kaum wahr.
Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so schwach gefühlt wie in dieser sich scheinbar endlos dehnenden Zeitspanne. Und noch nie zuvor hatte sie an Dragosz’ Liebe gezweifelt. Warum dann ausgerechnet jetzt? Warum dieser schreckliche Verdacht, dass er sie nur hatte ausnutzen wollen?