Das rätselhafte Wesen aber schwieg. Doch dann, gerade als Zakaan schon die Hoffnung aufgeben wollte, schärften sich die Umrisse der Todessyre wieder. Und dann sagte sie einen Satz, der Zakaan fast mehr erschütterte als alles zuvor: »Arianrhod ist der Schlüssel zu allem.«
»Arianrhod?«, echote er ungläubig. »Aber wie kann das sein?«
Die Todessyre schien zu zögern, und Zakaan wartete darauf, dass sie fortfuhr. Seine Geduld wurde belohnt.
»Es wird so sein, wie es die Urväter bestimmt haben«, verkündete die Todessyre. »Und du wirst dabei sein, wenn du auf dem Pfad der Wahrhaftigkeit bleibst.«
»Die Urväter ...« Zakaan versuchte, irgendeinen Sinn in den Worten der Todessyre zu finden, »Der Pfad der Wahrhaftigkeit ...«
»Du wirst erleben, dass Arianrhod das Schwert in die Hand nimmt, um über ihre Feinde zu kommen«, fuhr die Todessyre fort, »und sie wird euch damit bei eurem Kampf unterstützen, wenn ihr die Zeichen rechtzeitig zu sehen bereit seid«, ihre Stimme erstarb zu einem Flüstern, »aber wenn ihr die Zeichen nicht richtig zu deuten versteht, dann werdet ihr untergehen.«
Zakaan fühlte sich benommen, seine Gedanken und Empfindungen drohten abzudriften. Als er erst ein Stampfen und Klopfen hörte und dann ein Gemurmel vernahm, durchzuckte ihn ein jäher Schrecken. Er begriff, dass er dabei war, den Kontakt mit der Todessyre zu verlieren - und damit auch die Aussicht, die Antworten auf die weiteren drängenden Fragen zu erhalten, die in ihm brannten.
»Bleib hier«, bat er. »Bitte, bleib bei mir! Hilf mir, das zu verstehen, was mir die Stammväter sagen wollen!«
»Das werde ich«, antwortete die Todessyre. Die Geräusche um Zakaan herum schienen anzuschwellen, die Vögel sangen lauter, die Insekten summten deutlicher, und auch die Blumen und Pflanzen erstrahlten plötzlich in frischem Glanz. »Aber nur, wenn du dich wahrhaftig daran erinnerst, was du hörtest, als du mich zum ersten Mal gesehen hast.«
»Gehört?« Als er am Fluss gestanden hatte, als kleiner Junge, und zu der Fremden hinübergeblickt hatte, die ihm dort erschienen war?
Er versuchte all die wieder erstarkten Eindrücke um sich herum zurückzudrängen, die übertrieben kräftigen Farben und das überbordende Leben. Er war ja nicht wirklich hier, er saß auf einem alten Fuchsfell auf einer Anhöhe über einem Lager mit einem Häuflein verlorener Menschen zusammen, und er war in eine Trance gefallen - dieses unwirkliche Reich irgendwo zwischen der Welt der Menschen und der der Götter würde ihn nicht daran hindern, in eine Vergangenheit zurückzureisen, die er schon vergessen geglaubt hatte.
Aber so sehr er sich auch darum bemühte, es wollte ihm doch nicht gelingen, wieder in diese frühere Erinnerung zurückzufinden. Es gelang ihm nicht, die Sorgen und Ängste abzustreifen, die ihn wie eine Geisel gefangen nahmen. Zumindest anfangs. Doch dann überfielen ihn die Bilder der Vergangenheit, die er gerufen hatte, mit ungestümer Kraft, und er spürte auch wieder die Leichtigkeit und Lebendigkeit in sich, die ihn als kleinen Jungen vorangetragen hatten.
Damals, als er gerade allein durch die Wiesen hatte laufen dürfen ... als er zu einem Ausflug zum Fluss aufgebrochen war ... Er erinnerte sich wieder, als wäre es gestern passiert ...
Die Todessyre hatte auf der anderen Seite des Flusses gestanden, ein lichtes Wesen, das ihm wie hingezaubert erschienen war, ohne dass er auch nur im Entferntesten etwas von dem Geheimnis ihrer Existenz geahnt hätte. Und nun hatte ihm das gleiche Wesen aufgetragen, auf die Geräusche zu achten, die er damals gehört hatte ...
Die alltäglichen kleinen Laute aus dem Dorf und den Weiden waren zu ihm herübergeweht, das Rauschen des Windes und auch das Plätschern der Wellen ... aber nichts anderes ...
Oder doch ... Er erinnerte sich daran, dass jemand seinen Namen gerufen hatte. Nicht seine Mutter war das gewesen, sondern eine schwache, helle Stimme: die seines Bruders.
»Ja«, er nickte, »da war Abdur. Er hätte das Dorf gar nicht verlassen dürfen, dazu war er noch viel zu klein.«
Er versank in seine frühe Kindheitserinnerung. »Zakaan!«, hörte er seinen Bruder rufen. »Wo bist du?«
Zakaan riss den Blick von der Fremden auf der anderen Seite des Ufers los und sprang auf, um dem kleinen Abdur entgegenzublicken, der mit zwar ungelenken, aber zielsicheren Bewegungen herangewackelt kam. »Zakaan! Zakaan! Ich hab Angst um dich!«
Zakaan schüttelte den Kopf. »Geh zurück!«, verlangte er. »Wenn dich Onkel Woratz hier sieht, gibt es Ärger.«
Abdur gehorchte nicht, sondern beschleunigte ganz im Gegenteil seine Schritte noch einmal. Seine kleinen nackten Füße blieben irgendwo hängen, dann stieß er einen hellen, schrillen Schrei aus, streckte die Hände vor und fiel in die größte Schlammpfütze, die sich zwischen ihm und dem Fluss befand.
»Obrrraoh«, gurgelte er, als er wieder aufsprang und jede Menge Brackwasser ausspuckte. »Ich hatte einen schlimmen Traum! Da war jemand. Ein Mädchen. Das stand am Fluss und sah zu dir herüber ... und es wollte deinen Tod!«
»Nein, Abdurezak«, flüsterte er, plötzlich wieder zwischen ferner Vergangenheit und einer viel zu nahen Gegenwart hin und her gerissen. »Sie wollte doch nicht meinen Tod. Sie hat mir nur gezeigt, was mit mir passieren könnte, wenn ich nicht den richtigen Weg einschlage.«
Das Gesicht vor ihm schien zu flackern, und als es dann wieder eine feste Gestalt annahm, glaubte Zakaan tatsächlich in die alten, traurigen Augen Abdurezaks zu blicken, der sein Bruder gewesen war - und den man in seiner Kindheit Abdur gerufen hatte.
»Ich muss mit Dragosz gehen«, sagte Abdurezak. »Ich habe keine andere Wahl. Ich habe ihm die Treue geschworen. Er ist unser Herrscher.«
Zakaan starrte seinen Bruder wortlos an. Sie standen wieder am Fluss, wie vor einer Ewigkeit schon. Aber jetzt war es nicht mehr der kleine Abdur, der für ein Gespräch auf Leben und Tod zu ihm gekommen war, sondern der vom Alter gebeugte Erwachsene, den man schon seit Ewigkeiten nur noch Abdurezak nannte.
»Dragosz ist nach den alten Gesetzen unser Herrscher«, antwortete Zakaan heiser. »Aber nach den alten Gesetzen hätte er seinem Bruder niemals die Frau nehmen dürfen.«
Abdurezak nickte. »Das ist richtig. Und es ist fürchterlich, was Dragosz getan hat. Es ändert aber nichts daran, dass ich mit Dragosz und Surkija gehen werde.«
Zakaan starrte ihn eine ganze Zeit wortlos an. Er und sein Bruder hatten sich noch nie für längere Zeit getrennt. Und jetzt wollte ihn Abdurezak verlassen, und das vielleicht für immer?
»Du gehst mit den Abtrünnigen?«, fragte Zakaan. »Ist es wirklich das, was du willst?«
»Abtrünnige ...« Abdurezak schüttelte den Kopf. »Das ist ein merkwürdiges Wort für diejenigen, die ihrem Herrscher folgen.«
»Nicht merkwürdig ist es«, schnappte Zakaan. »Es ist sogar das einzig richtige, das einzig treffende Wort. Oder wie nennst du diejenigen, die einem Rechtsbrecher folgen?«
»Ich nenne Dragosz keinen Rechtsbrecher, und uns selbst nicht Abtrünnige«, sagte Abdurezak traurig. »Und das, obwohl ich deine Sicht der Dinge verstehen kann.«
»Und warum teilst du sie dann nicht?«, fragte Zakaan bitter.
»Weil ich sie nicht teilen kann«, antwortete Abdurezak rasch. »Denn ich urteile nicht aus der Sicht des Schamanen, sondern aus der des Ältestenrates. Und in diesem Fall unterscheiden sich unsere beiden Einstellungen so sehr wie die eines Fuchses und eines Hahns, der sein Gelege verteidigen muss.«
Zakaans Gesicht verdunkelte sich. »Sind dir denn Ehre und Anstand nichts mehr wert, Bruder?«
»Doch«, antwortete Abdurezak. »Sie sind mir vielleicht sogar mehr wert, als du erahnen magst. Aber zu allererst geht es mir um das Schicksal unseres Volkes. Unseres gemeinsamen Volkes, Zakaan! Und so beschwöre ich dich: Sprich noch einmal mit Ragok. Mach ihm klar, dass er sein Leben - und das all derjenigen, die in Treue zu ihm stehen - gefährdet, wenn er nicht mit uns zu der großen Wanderung aufbricht!«