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Seine Gefühle waren vollkommen durcheinander geraten. Die Panik fiel ebenso von ihm ab wie im Herbst die Blätter von einem Baum, und machte etwas anderem Platz, einer Art Verwirrung, die es ihm erschwerte, einen klaren Gedanken zu fassen.

Wenn das doch einer von Dragosz’ Männern war: Dann war es eigentlich ein Feind von ihm gewesen. Aber es wäre auch jemand, den er von Kindesbeinen an kannte. Im Zweifelsfall wäre es dann doch eher ein Verbündeter, zumindest wenn irgendjemand von außen angriffe. Oder war das falsch gedacht? War ein solcher Gedanke Verrat an seinem Bruder?

»Verdammt, was treibst du da?«, herrschte ihn Torgon aus sicherer Entfernung an. »Komm endlich! Der Nebel wird immer dichter!«

Statt Torgons Aufforderung zu folgen, trat er jedoch noch näher an den Toten heran und ging in die Hocke. Der Mann war fast vollständig im Sumpf versunken, sodass man nichts mehr von seinem Gesicht erkennen konnte, und wurde nun von dem grauen Band des Bodennebels wie von einem Leichentuch bedeckt. Lexz schien es plötzlich ungeheuer wichtig zu sein herauszufinden, wer dieser Mann gewesen war. Die ganze Zeit über musste er dabei an seinen Bruder denken.

Merkwürdig. Bislang waren immer nur Wut und Rachdurst in ihm hochgestiegen, wenn er sich an Nakur erinnert hatte. Jetzt aber waren es Tränen und Trauer.

»Bruder«, murmelte er. »Warum hast du mich verlassen?«

Nakur hatte so fröhliche Augen gehabt. Er war ein lustiger Kerl gewesen, immer zu Scherzen aufgelegt. So unbekümmert und voller Lebendigkeit.

Und nun war er tot.

So wie der Mann, der hier zu seinen Füßen lag und noch im Tod seine Waffe umklammert hielt. Und hatte ihm das etwas genützt? Hatte es überhaupt irgendeinen Sinn, eine Waffe zu erheben, um seine Feinde damit zu erschlagen?

»Jetzt komm endlich!« Torgons Stimme kippte vor lauter Ungeduld fast über. »Der Sumpf ist gefährlich. Und der Nebel wird dich gleich ganz einhüllen!«

Lexz nickte. Ja. Der Sumpf war tatsächlich gefährlich. Und der Tote zu seinen Füßen war keineswegs sein Bruder, er hatte wahrscheinlich noch nicht einmal Ähnlichkeit mit ihm. Es war ein fremder Mann aus einem fremden Volk.

Oder ein Dämon.

»Du hast dich verlaufen?«, fragte jemand.

Lexz fuhr so heftig zusammen, dass ihm fast die Waffe aus der Hand gefallen wäre. Dann fuhr er in der Hocke herum und starrte in die Richtung, in der Ekarna die erste Leiche entdeckt hatte.

Ja. Da stand sie. Schemengleich, in den feuchtkalten Schwaden kaum wahrnehmbar.

»Isana?«, murmelte er. »Aber warum ...«

Dann jedoch erkannte er seinen Irrtum. Er war so sicher gewesen, Isana sei auf wundersame Weise ihren Entführern entkommen und zu ihm zurückgekehrt, um ihn mit sich zu nehmen. Aber das stimmte nicht. Das Mädchen, das dort stand, wo Ekarna den Toten entdeckt und an sich herangezogen hatte, fast ganz im Nebeldunst verborgen, wirkte so seltsam licht und durchscheinend, als sei es gar nicht von dieser Welt. Sie hatte leicht schräg stehende Augen, in denen eine bange Frage zu lesen war, und ihr Mund war leicht geöffnet, so wie bei jemandem, der gerade etwas Schreckliches gesehen hatte.

Lexz hatte das Gefühl, jeden Halt zu verlieren. Hatte er diese Kleine nicht schon einmal gesehen, am Leichenpfuhl, nach dem ersten Angriff der Höhlenmenschen? Aber wenn das stimmte: Was tat sie dann hier?

»Wer bist du?«, fragte er.

Das Mädchen antwortete nicht. Seine Füße und Beine waren vollständig vom Nebel verdeckt, um seinen Oberkörper zogen jetzt immer dichtere Schwaden, nur ihr Gesicht war so klar zu erkennen, als wäre es auf geheimnisvolle Weise gegen den Nebel gefeit.

»Isana?«, fragte er mit klopfendem Herzen und war doch eigentlich ganz sicher, dass sie es nicht war. »Bist du es?«

Das Mädchen hob die Hände. Es sah aus, als flute das Licht ungehindert durch ihre Handflächen hindurch, von ihren Fingern schien ein schwacher Schein auszugehen.

Nein. Das war ganz sicher nicht Isana.

»Wer bist du?«, wiederholte er schaudernd. »Und was willst du von mir?«

Das Mädchen murmelte etwas, und Lexz wäre fast einen Schritt zurückgewichen, als er die Worte zu verstehen glaubte: »Der Schamane schickt mich.«

Zakaan ... Lexz runzelte die Stirn. Es gab so Vieles in der Welt der Schatten, das er im Gegensatz zu dem Schamanen nicht verstand. Und vieles hatte mit dem Tod zu tun, und auch mit der Trauer um seinen Bruder. Aber auch mit dem Verlust, den er gerade erst erlitten hatte, als man ihm Isana nahm, kaum dass er sie gefunden hatte.

»Du bist dabei, dich selbst zu verlieren«, sagte das seltsame Wesen, das ihm in der Gestalt eines Mädchens erschienen war.

Sein Körper verkrampfte sich im stummen Schmerz. Das Gefühl, dieses zarte Wesen doch zu kennen, verstärkte sich. Obwohl er es jetzt erst zum zweiten Mal sah, war es ihm auf eine merkwürdige Art vertraut. Und vielleicht stimmte das ja auch. Vielleicht hatte es etwas mit den Gesängen zu tun, dem eintönigen Trommeln, den Rauchschwaden und den vergorenen Getränken, die sie zu sich genommen hatten. Vielleicht war sie ihm in einer Vision erschienen, angelockt vom Schamanen, und vielleicht hatte das etwas mit dem Tod seines Bruders zu tun ...

Ja, jetzt war er sich sicher. Wie man die ersten Strahlen der Frühlingssonne erkennt, wenn sie den Winter vertreibt, und sich wieder an ihre Wärme erinnern kann, erkannte er nun auch das Mädchen wieder: auf eine mehr körperliche als geistige Weise. Sie kannten sich schon seit Ewigkeiten, vielleicht aus düsteren Träumen, gewiss aber aus der Zeit, als sein Bruder gestorben war ...

Oder auch tatsächlich aus den uralten Geschichten über zierliche mädchenhafte Wesen, die einem Krieger vor dem Kampf erschienen, um ihn auf seinen bevorstehenden Tod vorzubereiten ...

»Wer sich verläuft, kommt nicht ans Ziel«, sagte das Mädchen plötzlich laut. »Und so wie es aussieht hast du dich gerade verlaufen.«

Seine Stimme klang wie die eines Menschen - und doch auch wieder nicht; sie war ein wenig tiefer und gleichzeitig schriller - vollkommen unmöglich, dass sie zu einem menschlichen Wesen gehörte.

»Ja.« Sein Herz schlug hart und schnell. »Ich habe mich verlaufen. Und wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, wo ich jetzt hin muss. Kannst du mir helfen?«

»Helfen?« Die Todessyre schüttelte den Kopf. »Niemand kann dir helfen, wenn du es nicht selbst kannst.«

Lexz nickte. Das Gleiche hatte ihm der Schamane auch immer wieder gesagt. Aber er hatte ebenso erwähnt, dass einem die Stammväter Halt und Richtung geben konnten, und dass man es nur lernen musste, auf ihre Stimme zu hören.

»Du weißt alles, was du wissen musst«, sagte die Todessyre. »Aber wenn du die falsche Liebe wählst, wirst du sterben. Und mit dir deine Gefährten - und alles, wofür du und die deinen gekämpft haben.«

Lexz hätte gar keine Frage mehr stellen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Das Mädchen wandte sich ab und war schon kurz darauf so vollständig verschwunden, als hätte es der Nebel aufgesogen ...

Kapitel 16

Es war nicht Dragosz’ Stimme, und auch nicht die Tarus, sondern eine helle junge Frauenstimme, und sie klang so unpassend fröhlich, dass Arri fast aufgestöhnt hätte.

»Du solltest etwas essen«, sagte die Stimme vom Eingang herüber.

Arri zuckte zusammen. Es schien endlos zu dauern, bis sie aus ihren düsteren Gedanken in die Wirklichkeit zurückfand. Tatsächlich dauerte es aber wohl nur so lange, wie man braucht, um eine Schale auf einem Bord abzusetzen. Sie rutschte ein Stück zur Seite und in eine andere Haltung, als seien ihre Gedanken an Dragosz etwas Verbotenes, bei dem sie sich nicht überraschen lassen durfte. Erst dann sah sie zu der schmalen Öffnung hinüber, durch die man die Hütte betreten konnte.