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Es war Isana, natürlich, platschnass vom Regen, aber offensichtlich nicht gewillt, sich durch das Unwetter davon abhalten zu lassen, ihr etwas zu essen zu bringen. Arri atmete erleichtert auf.

»Du hast schon seit Tagen nichts mehr gegessen«, stellte Isana fest, während sie leichtfüßig, aber mit jeder Bewegung Wassertropfen versprühend, in die Hütte huschte. »So kann es wirklich nicht weitergehen!«

Arri nickte erschöpft. Sie wussten beide, dass Arri jede Nahrung verweigert hatte, seitdem man sie hier mit Schimpf und Schande abgeladen hatte. Nach allem, was sie erlebt hatte, war es ihr unmöglich gewesen, auch nur einen einzigen Bissen herunterzubekommen. Schon bei dem Gedanken an den faden Hirsebrei, den man ihr mehrfach hatte aufzwingen wollen, verkrampfte sich alles in ihr.

Das hinderte Isana allerdings nicht daran, neben einem mit Wasser gefüllten Holzbecher auch eine Tonschüssel in die Hütte zu tragen. Arri glaubte schon, den leicht säuerlichen Geruch des immer gleichen Breis wahrzunehmen, den man ihr Tag für Tag anbot, doch dann stieg ihr der durchdringende Duft von Fischsuppe aus der dampfenden Schüssel in die Nase. Rotauge, dachte Arri ohne es zu wollen, da müssen Rotauge und Zander drin sein. Verfeinert mit ein paar Kräutern und lange genug im Sud gekocht, dass die Fischstücke ganz zart werden.

Sie schluckte hart und trocken. Es war noch gar nicht lange her, da hätte sie fast alles für eine solche Delikatesse gegeben. Seit dem Tod ihrer Mutter war der Hunger ihr ständiger Begleiter gewesen, und das hatte sich auch nicht gebessert, als Dragosz sie mit zu seinem Volk genommen hatte. Erst nachdem sie hier an den See gezogen waren, hatte sich ihre Lage etwas geändert - aber sich richtig satt essen zu können, das war nach wie vor ein ungeheuerlicher Luxus.

»Nun komm schon.« Isana stellte Becher und Schüssel zu Arris Füßen ab, trat einen Schritt zurück und schüttelte sich dann wie einer der beiden Dorfhunde, wenn sie sich nach einem heftigen Regenguss in Arris Hütte drängten. »Ich habe die Suppe den langen Weg von der Schmiedehütte bis hierhin getragen.« Von ihrem tanzenden schwarzen Haar flogen unzählige Wassertropfen auf, von denen etliche in der Suppe landeten oder in Arris Gesicht platschten. »Und das mitten durch den heftigsten Regen, den man sich nur vorstellen kann.« Ihr Kopf machte eine letzte kreisende Bewegung, als bewege sie ihn zu einem wilden Trommelrhythmus, dann hielt sie abrupt an, legte den Kopf schief und starrte mit entschlossenem Blick auf Arri hinab. »Also greif endlich zu. Oder willst du, dass sich die Ratten über diese wunderbare Suppe hermachen? Ich will ja nicht prahlen, aber ich glaube, damit ist mir ein echtes Meisterwerk gelungen.«

Wie zur Antwort knurrte Arris Magen so laut, dass es wohl noch auf der anderen Seite des Sees zu hören gewesen wäre, hätte nicht das harte Prasseln der Regentropfen alle anderen Geräusche übertönt. »Ich habe gar keinen Hunger«, behauptete sie dennoch. »Außerdem werde ich euch bestimmt kein Essen wegnehmen.« Sie deutete auf die lästige Fußfessel aus Kupfer, die Isanas Vater angebracht hatte und deren Gegenstück er so sorgfältig an dem roh behauenen Mittelpfosten der Hütte befestigt hatte, als solle sie hier bis zum Ende aller Zeiten festgehalten werden. »Wie hättet ihr bei der großen Wanderung jemanden genannt, der seinen Teil für die Gemeinschaft nicht beigetragen hat? Einen Schmarotzer?«

Isana strich sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ sich dann mit einem kleinen Seufzer auf der trockensten Stelle nieder, die der Boden der Hütte zu bieten hatte - was bedeutete, dass er nur feucht und nicht richtig nass war. Der Tochter des Schmieds schien das zu genügen, und dies sollte Arri eigentlich nicht wundern; die früh gestorbene Schwester ihrer Mutter war, wie man sich im Dorf erzählte, genau so gewesen. Mit ihrer zierlichen Gestalt, dem fast pechschwarzen Haar und den wachen Augen, die ruhelos umherirrten, galt sie als Ebenbild der Schwester ihrer verstorbenen Mutter, und genauso wie man es dieser nachsagte zeichnete auch Isana ein scharfer Verstand, Ehrlichkeit und hohe Genügsamkeit aus.

Bislang war es für Arri eine Nebensächlichkeit gewesen, doch jetzt schien das alles anders zu sein. Jedes Mal, wenn Arri Isana sah, überkam sie nicht gerade eine Mischung aus Zuneigung und Stolz, sondern etwas ganz, ganz anderes. Sie musste Bitterkeit herunterschlucken, die sie regelmäßig spürte, da sie in Isana das jüngere Abbild von Dragosz’ erster Frau Surkija zu erkennen glaubte. Bitterkeit? Nein, das war noch mehr. Es war schon schlimm genug für sie, dass Taru ein Abbild seines Vaters war. Aber eine richtige Qual war es erst, dass Isana so aussah wie die Frau, die Dragosz einst so sehr geliebt hatte - und die jetzt im Reich der toten Helden seine Gemahlin für die Ewigkeit werden sollte!

Es war ganz fürchterlich, am schlimmsten war aber, dass sie sich das noch nicht einmal anmerken lassen durfte. Aus ihrer Abneigung gegen Taru brauchte Arri keinen Hehl zu machen, aber dass sie jedes Mal ein regelrechter Hass überkam, wenn Isana ihr zulächelte, war geradezu unerträglich. Wenn es irgendwie möglich gewesen wäre, wäre sie Kenans Tochter aus dem Weg gegangen.

Aber das war es nicht. Und das nicht nur, weil sie gefesselt war und Isana sie mindestens einmal am Tag aufsuchte. Nein, es war schon deswegen unmöglich, weil Isana ihre einzige aufrichtige Freundin war.

Was für ein hinterhältiges Spiel, das die Götter da mit ihr trieben! Es kam Arri so vor, als wollten sie sie immer und immer wieder in Versuchung führen, als setzten sie alles daran, dass ihre Gefühle endgültig überbordeten und sie nicht mehr ein noch aus wusste. Irgendwann würde sie dann tatsächlich etwas Schreckliches tun, und aus ihrer Unschuld würde eine fürchterliche Schuld werden, die dann alles rechtfertigte, was man ihr antat.

Sie atmete tief aus, und es klang fast wie das Geräusch, mit dem ein Krieger sein Schwert zieht und sich seinem Gegner zuwendet, um ihn mit ein paar heftigen Hieben in Stücke zu spalten.

»Ist dir nicht gut?«, fragte Isana. Ihre Stimme klang ganz harmlos. Arri hätte jedoch schwören können, dass Heimtücke in ihr mitschwang.

Und das nur, weil Isana der verstorbenen Surkija so sehr glich! Weil die beiden Frauen in Arris aufgewühlten Gefühlen in Augenblicken wie diesen geradezu verschmolzen, und weil Arri ganz tief in ihrem Herzen glaubte, es sei nicht die Tochter des Schmieds, die ihr gegenübersaß, sondern sie hätte sich auf dämonische Weise in Surkija verwandelt!

Und das hätte ja auch einen Sinn ergeben. Arri und Surkija waren Rivalinnen, und das, obwohl die Heilerin seit mehr als zwei Sonnenwenden gestorben war! Und selbst nach Dragosz’ Tod noch. Oder vielleicht auch gerade deswegen.

Arri hatte niemals in Erfahrung bringen können, wie Surkija gestorben war. Alle Raker - vor allem Dragosz - hatten ein Geheimnis darum gemacht, als sei ihr Tod mit ganz schrecklichen Umständen verbunden. Vielleicht war sie einer abscheulichen Bluttat zum Opfer gefallen? Aber wer war dann ihr Mörder?

»Du musst wirklich etwas essen!«, forderte Isana sie auf. »Deine Hände fangen vor lauter Schwäche ja schon an zu zittern.«

Vor lauter Schwäche? Arri hätte beinahe laut aufgelacht. Nicht vor Schwäche, sondern vor Mordlust. Weil sie sie am liebsten um den Hals von jemanden gelegt hätte, den sie für all das Leid hätte verantwortlich machen können, das ihr widerfahren war.

Dabei hätte sie gar nicht sagen können, wer außer Dragosz’ Mördern eigentlich den Tod verdient hatte. Isana gewiss nicht, und schon gar nicht Surkija.

Die war ja schließlich schon tot.

Außerdem hatte sie ihr gar nichts getan. Ganz im Gegenteil. Wenn man es nüchtern betrachtete, dann hatte ihr Arri sogar den Mann weggenommen, und nicht umgekehrt. Wenn sich das jetzt nach Dragosz’ Tod wieder umdrehte, dann mochte es sogar ausgleichende Gerechtigkeit sein.

Das änderte allerdings nichts an Arris Bitterkeit.

Schlimmer noch: Surkija hatte ihr niemals den geringsten Anlass gegeben, sie abzulehnen - oder gar zu hassen. Sie war ebenso eine Heilerin gewesen wie Arri, und alle erzählten sich auch nur das Beste über sie. Wenn sie sich unter günstigeren Umständen kennengelernt hätten, wären sie wahrscheinlich sehr gut miteinander ausgekommen, vielleicht sogar gute Freundinnen geworden.