Zakaan wich ein Stück vor diesen Worten zurück. »Das kann ich nicht«, flüsterte er dann. »Und du weißt es! Ragok würde eher sterben, als seinem verräterischen Bruder zu folgen!«
»Und dafür lieber seinen Tod in Kauf nehmen? Und den der ihm anvertrauten Menschen?« Abdurezak schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Das darf nicht sein!«
»Und doch ist es so ...« Zakaan machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber noch sind wir nicht tot. Die Stammväter werden mir einen Weg weisen, wie wir die Dürre überstehen können.«
»Mach dir doch nichts vor!« Abdurezak deutete auf den Fluss hinter Zakaan, auf dessen anderer Seite vor Ewigkeiten eine Todessyre gestanden hatte. »Dort fließt schon lange kein Wasser mehr. Die Wiesen und Felder sind ausgetrocknet. Und es gibt kaum noch jagbares Wild. Wie lange, glaubst du, werdet ihr das noch überstehen können, Bruder?«
»Eine Ewigkeit, wenn es sein muss, Bruder«, antwortete Zakaan. »Denn die Götter sind mit uns.«
Abdurezak starrte ihn schweigend an, sein Gesicht verfinsterte sich zunehmend. »Du selbst hast uns vorhergesagt, dass wir das Land unserer Vorväter finden müssen, wenn wir die Dürre überstehen wollen.«
Zakaan nickte. »Ja, das habe ich«, sagte er mit erstickter Stimme. »Aber das entbindet mich nicht des Eides, den ich Dragosz’ Bruder gegenüber geleistet habe. Ich werde Ragok folgen. Und wenn es sein muss, auch in den Tod, und sogar darüber hinaus.«
Abdurezak starrte ihn schweigend an. »So soll also ein tödlicher Zwist unter zwei anderen Brüdern dafür sorgen, dass auch wir uns nach all der Zeit entzweien?«
Zakaan hätte darauf geantwortet, wenn er es gekonnt hätte. Aber die Worte blieben ihm im Hals stecken.
»Alles, was ich tun konnte, war, hier und jetzt einen offenen Kampf zu verhindern«, fuhr Abdurezak fort. »Alles, was ich tun kann, ist, die verfeindeten Parteien zu trennen. Für alles andere musst du selbst sorgen.«
Zakaan rang um Worte. »Dann leb wohl, Bruder«, sagte er schließlich. »Und lass uns darauf hoffen, dass wir uns bei der nächsten Begegnung nicht mit dem Schwert in der Hand gegenüberstehen!«
Abdurezak schüttelte den Kopf. »Niemals! Niemals werde ich zulassen, dass sich Brüder und Schwestern mit dem Schwert bekämpfen!«
»Nein«, flüsterte Zakaan. »Auch ich werde das niemals zulassen!«
Es war nicht mehr das Gesicht Abdurezaks, in das er starrte. Es war das der Todessyre. Und zum ersten Mal zeichnete sich so etwas wie ein zufriedenes Lächeln auf ihren Zügen ab. »Die Vergangenheit«, sagte sie, »die Zukunft. Die Gegenwart. All das vermischt sich.«
»Ja.« Zakaan hätte genickt, wenn er es noch gekonnt hätte. Aber das war nicht der Fall. Sein Körper fühlte sich nicht mehr einfach nur schrecklich alt an, sondern uralt, wie der eines Mannes, der längst seine eigene Lebensspanne überlebt hatte. Er wusste, was diese Empfindung bedeutete, ebenso wie die Schwäche und die Verwirrung, die mit ihr Hand in Hand gingen. Das Fleisch der Götter forderte seinen Tribut. Es saugte seine Lebenskraft aus. Jeder Atemzug, den er länger in Trance verharrte, würde ihn dem endgültigen Zusammenbruch näherbringen.
Also musste er die Trance abbrechen. Sofort. Sonst war er verloren.
Und dennoch zögerte er. Zakaan hätte sich auf das Trommeln und Murmeln seiner Begleiter konzentrieren können, auf das gleichmäßige An- und Abschwellen ihrer rituellen Begleitung, er hätte versuchen können, sich mit ihrer Hilfe von der Trance zu lösen, um wieder in die Leichtigkeit zurückzukehren. Aber das wollte er nicht. Es wäre ein Fehler gewesen. Es gab noch so vieles, was er in Erfahrung bringen musste.
»Deine Ahnen sind auch die Ahnen deiner Gegner«, fuhr die Todessyre fort, als bemerke sie gar nicht, dass er nahe daran war, ihr ins Reich des Todes zu folgen. »Und das ist es, was du endlich begreifen musst!«
»Was ...«, brachte Zakaan mühsam hervor. Er spürte, wie er nach vorne zu sacken drohte, und riss sich mit äußerster Willensanstrengung zusammen. »Was muss ich begreifen?«
»Dragosz ist nicht dein Gegner«, sagte die Todessyre. »Und schon gar nicht dein Bruder.«
»Natürlich nicht.« Warum auch sollte Abdurezak sein Feind sein? Nur, weil er zu Dragosz hielt? Das war kein Grund, so etwas wie Feindschaft für ihn zu empfinden.
»Dragosz war wie ein Sohn für dich«, fuhr die Todessyre fort. »Und das war er auch für Abdurezak.«
Es dauerte eine Weile, bis Zakaan die Worte verstand. »Was heißt das?«, fragte er mit brüchiger Stimme. »Warum spricht du in der Vergangenheit? Warum sagst du, dass Dragosz wie ein Sohn für uns war? Das ist er doch immer noch!«
Das Licht schien vor ihm zu fliehen, und die blühenden Blumen ließen die Köpfe hängen, das Zwitschern der Vögel klang plötzlich nicht mehr fröhlich, sondern bedrohlich. Tod, dachte Zakaan entsetzt. Das bedeutet: Tod! Deswegen war ihm auch die Todessyre erschienen. Nicht, um ihn mit sich ins Totenreich zu nehmen - sondern weil sie von dort eine schaurige Botschaft für ihn mitbrachte.
»Soll das etwa heißen ...« Seine Stimme versagte, und die zarte, mädchenhafte Gestalt sowie der ganze Wald begannen vor seinen Augen zu flackern, »soll das etwa heißen, dass ...«
»Dragosz tot ist?« Die Todessyre nickte. »Allerdings. Er ist gestorben, weil die Ahnen seinen Tod erzwingen mussten. Dragosz hätte sonst alles zerstört und alles vernichtet, was die lange Ahnenkette vor ihm aufgebaut hat.«
Zakaan spürte, wie ein bitterer Kloß in seiner Kehle hochstieg. Der Ort, von dem aus er in dieses Zwischenreich hinübergeglitten war, war kein Halt mehr für ihn, nichts, wohin er wieder zurückkehren wollte. Zumindest nicht, wenn es stimmte, dass Dragosz tot war.
»Was redest du da von den Stammvätern?«, fragte er scharf. »Die Stammväter weisen uns den rechten Weg. Sie verderben doch nicht die ihren!«
»Ja«, sagte die Todessyre, »aber die Ahnen weisen all ihren Nachfahren den Weg. Und jetzt ist ein Punkt gekommen, wo sich die Linien im Streit kreuzen. Und an dem derjenige weichen muss, der Schuld auf sich geladen hat.«
Zakaan wartete darauf, dass die Todessyre weitersprach. Aber das tat sie nicht. So blieb ihm nichts anderes übrig, als selbst weiterzudenken und weiterzuempfinden - ganz für sich allein, und mit all der Last seines Alters und seines Wissens.
»Die Linien von Ragok und Dragosz haben sich bereits im Streit gekreuzt«, sagte er schließlich, als die Stille beinah unerträglich geworden war. »Und jetzt könnte es zu einem schlimmen Kampf zwischen uns und unseren Brüdern und Schwestern kommen. Ist es das, was du meinst?«
»Ja. Und nein.« Die Stimme der Todessyre war kaum noch zu verstehen. »Der Ursprung des Streits liegt viel länger zurück. Es begann in einer Zeit, als die Werkzeuge aus Knochen und Steinen bestanden.«
Eine sanfte Bö nahm ihre Stimme mit und zerriss sie in kleine Fetzen, sodass Zakaan Mühe hatte, den Sinn zu erfassen.
»Steine und Knochen.« Er nickte. Ja, hauptsächlich daraus hatten die Ahnen ihre Werkzeuge gefertigt. Kupfer oder gar Bronze hatten sie noch nicht gekannt. »Aber welcher Streit kann damals begonnen haben - und heute neu aufleben?«
»Dragosz hielt das Werkzeug in der Hand«, antwortete die Todessyre rätselhaft. »Aber mit seinem Tod ist es ihm entglitten.«
»Welches Werkzeug?«, fragte Zakaan alarmiert. Und als die Todessyre nicht gleich antwortete, setze er nach. »Ein Werkzeug aus Stein und Knochen?«
»Nein.« Durch die Todessyre ging ein Flackern, und es sah aus, als werde sich das luftige Wesen schon im nächsten Augenblick vollkommen auflösen. »Es besteht aus Kupfer, Zinn und Gold. Und es enthält die ganze Weisheit Urutarks.«