Für Harriet,
der das Verdienst erneut gebührt
Prolog
Blitze
Von dem hohen Bogenfenster fast achtzig Spann über dem Boden aus, nicht weit von der obersten Spitze der Weißen Burg entfernt, konnte Elaida viele Meilen über Tar Valon bis zu den wogenden Ebenen und den Wäldern hinaussehen, die an den breiten, von Nordwesten heranwogenden Fluß Erinin angrenzten, bevor er sich um die weißen Mauern der großen Inselstadt herum teilte. Unten überlagerten die langen Morgenschatten die Stadt, aber von diesem erhöhten Standpunkt aus schien alles hell und klar. Nicht einmal die sagenhaften Türme von Cairhien konnten wirklich mit der Weißen Burg mithalten. Und sicherlich auch keiner der niedrigeren Türme Tar Valons, auch wenn die Menschen nah und fern von ihnen und ihren gewölbten Himmelsbrücken sprachen.
In dieser Höhe linderte eine beständige Brise die unnatürliche Hitze, die die Welt gefangenhielt. Da das Lichterfest vorüber war, hätte Schnee den Boden bedecken sollen, aber das Wetter entsprach eher dem Höhepunkt eines Hochsommers. Ein weiteres Omen dafür, daß die Letzte Schlacht bevorstand und der Dunkle König die Welt berührte - wenn noch weitere Zeichen nötig gewesen wären. Elaida ließ sich natürlich auch beim Abstieg nicht von der Hitze berühren. Die Brise war nicht der Grund dafür, daß sie ihre Unterkunft, trotz der Unbequemlichkeit so vieler Stufen, hier oben in diese schlichten Räume verlegt hatte.
Man konnte die einfachen rostroten Bodenfliesen und die weißen, mit nur wenigen Wandteppichen geschmückten Marmorwände nicht mit der Erhabenheit des Arbeitszimmers der Amyrlin und den dazugehörigen Räumen weiter unten vergleichen. Sie benutzte jene Räume noch gelegentlich - manche hielten sie für die Macht des Amyrlin-Sitzes für unerläßlich -, aber sie lebte und arbeitete wegen der Aussicht häufiger hier. Aber nicht auf die Stadt oder den Fluß oder die Wälder, sondern auf das, was am Fuß der Burg begann.
Gewaltige Fundamentierungen waren ausgeführt worden. Hohe Holzkräne und Blöcke geschnittenen Marmors und Granits erstreckten sich jetzt über den ehemaligen Übungshof der Behüter. Steinmetze und Arbeiter schwärmten wie Ameisen über den Platz, und endlose Ströme von Wagen krochen durch die Tore in den Burghof und brachten weitere Steine heran. Auf einer Seite stand ein hölzernes ›Arbeitsmodell‹, wie die Steinmetze es nannten, das ausreichend groß war, daß Männer gebückt hineingehen und sich sehr genau ansehen konnten, wo jeder einzelne Stein plaziert werden sollte. Es war so groß wie einige Herrenhäuser. Die meisten der Arbeiter konnten jedoch nicht lesen - weder Worte noch Bauzeichnungen.
Wenn ein König oder eine Königin einen Palast besaß - warum sollte der Amyrlin-Sitz dann auf Räume verwiesen werden, die kaum besser waren als jene gewöhnlicher Schwestern? Ihr Palast würde der Weißen Burg in seiner Pracht gleichkommen und eine zehn Spann höhere Spitze als die Burg selbst aufweisen. Alles Blut war aus dem Gesicht des Steinmetzmeisters gewichen, als er das gehört hatte. Die Burg war von Ogiern unter Mithilfe von Schwestern, die die Macht gebrauchen konnten, erbaut worden. Ein Blick auf Elaidas Gesicht veranlaßte Meister Lerman jedoch, sich nur zu verbeugen und stotternd hervorzubringen, daß natürlich alles ihren Wünschen gemäß ausgeführt würde. Als habe das jemals in Frage gestanden.
Sie verzog verbittert den Mund. Sie hatte wieder Ogier-Steinmetze einsetzen wollen, aber die Ogier beschränkten sich aus irgendeinem Grund auf ihre Steddings. Ihre Aufforderung an den nächstgelegenen Stedding in den Schwarzen Hügeln war abschlägig beschieden worden. Höflich, aber dennoch abschlägig und ohne Erklärung, auch nicht für den Amyrlin-Sitz. Ogier blieben lieber für sich. Oder vielleicht zogen sie sich auch nur aus einer unruhigen Welt zurück. Ogier hielten sich von menschlichem Hader fern.
Elaida verbannte die Ogier energisch aus ihrem Geist. Sie war stolz auf ihre Fähigkeit, Mögliches von Unmöglichem unterscheiden zu können. Ogier waren eine Nebensächlichkeit Sie hatten bis auf die Städte, die sie vor so langer Zeit gebaut hatten und die sie jetzt nur besuchten, um Instandsetzungen durchzuführen, keinen Anteil an der Welt.
Sie betrachtete die Menschen dort unten, die wie Käfer über das Gelände krochen, mit leichtem Stirnrunzeln. Der Bau schritt zollweise voran. Ogier standen nicht zur Verfügung, aber vielleicht konnte die Eine Macht wieder benutzt werden. Nur wenige Schwestern besaßen die wahre Kraft, Erde zu verweben, aber es war nicht so viel Kraft erforderlich, um Steine zu verstärken oder Stein mit Stein zu verbinden. Ja... Der Palast war vor ihrem geistigen Auge bereits vollendet, Kolonnadengänge und große Kuppeln schimmerten weiß und golden, und diese eine Spitze, die bis in den Himmel reichte... Sie hob den Blick zum wolkenlosen Himmel, zu der Stelle, wo die Spitze aufragen würde, und sie seufzte tief. Ja. Die entsprechenden Befehle würden heute ausgegeben werden.
Die hohe Kastenuhr im Raum hinter ihr schlug, und auch in der Stadt läuteten Gongs und Glocken die Stunde, was hier - so hoch oben - nur schwach zu hören war. Elaida trat lächelnd vom Fenster fort, glättete ihr cremefarbenes Seidenkleid mit den roten Schlitzen und richtete die breite, gestreifte Stola des Amyrlin-Sitzes um ihre Schultern.
An der mit reichen Goldverzierungen versehenen Uhr bewegten sich mit dem Geläut kleine Gold-, Silber und Emaillefiguren. Gehörnte, rüsselbewehrte Trollocs flohen auf einer Ebene vor einer mit einem Umhang bekleideten Aes Sedai. Auf einer anderen Ebene versuchte ein Mann, der einen falschen Drachen darstellte, silberne Lichtblitze abzuwehren, die von einer zweiten Schwester geschleudert wurden. Über dem Zifferblatt, das sich über Elaidas Kopf befand, knieten ein gekrönter König und eine Königin vor der Amyrlin mit ihrer Emaillestola, und die Flamme von Tar Valon, aus einem großen Mondstein gehauen, ruhte auf einem goldenen Bogen über ihrem Kopf.
Elaida war nicht oft fröhlich, aber beim Anblick der Uhr konnte sie ein leises, erfreutes Lachen nicht unterdrücken. Cemaile Sorenthaine, von den Grauen erhoben, hatte sie in Auftrag gegeben, nachdem sie von einer Wiederkehr zu der Zeit vor den Trolloc-Kriegen geträumt hatte, als kein Regent einen Thron ohne Billigung der Burg innehaben konnte. Aus Cemailes großartigen Plänen wurde jedoch nichts, und die Uhr stand drei Jahrhunderte lang in einem staubigen Lagerraum - eine Verlegenheit, die niemand herzuzeigen wagte. Bis Elaida kam. Das Rad der Zeit drehte sich. Was einmal war, konnte wieder sein. Würde wieder sein.
Die Kastenuhr beherrschte den Eingang zu ihrem Wohnzimmer und den dahinterliegenden Schlaf- und Ankleideräumen. Edle Wandteppiche, gold- und silberdurchwirkte, farbenprächtige Arbeiten aus Tear und Kandor und Arad Doman, hingen jeweils genau gegenüber ihrem Pendant. Elaida war schon immer für Ordnung gewesen. Der rotgrüngold gemusterte Teppich, der den größten Teil der Fliesen bedeckte, kam aus Tarabon. In jeder Ecke des Raumes stand eine mit schlichten senkrechten Ornamenten verzierte Marmorsäule mit einer weißen Vase aus zerbrechlichem MeervolkPorzellan mit zwei Dutzend sorgfältig arrangierten roten Rosen darauf. Die Eine Macht war erforderlich, um jetzt Rosen erblühen zu lassen, besonders bei der Dürre und Hitze - ihrer Meinung nach eine sinnlose Gewohnheit. Vergoldete Schnitzereien in starrem cairhienischen Stil verzierten sowohl den einzigen Stuhl - niemand saß in ihrer Gegenwart - als auch den Schreibtisch. Ein einfacher Raum mit einer kaum zwei Spann hohen Decke, und doch würde er genügen, bis ihr Palast fertiggestellt war. Mit dieser Aussicht würde er genügen.