»Also hat unsere Elaida eine Weissagung gemacht«, sagte Mesaana in singendem Tonfall, und Alviarin erkannte erschreckt, daß sie am Ende ihres Berichts angelangt war. Ihre Knie schmerzten, aber sie wußte es besser, als daß sie ohne Erlaubnis aufgestanden wäre. Ein Schattenfinger tippte nachdenklich an silberne Lippen. Hatte sie schon irgendeine der Schwestern diese Geste vollführen sehen? »Es scheint mir seltsam, daß sie gleichzeitig so klar und doch so unstet sein sollte. Das Vorhersagen war stets ein seltenes Talent, und die meisten, die es besaßen, formulierten ihre Weissagungen auf eine Art, die nur Dichter verstehen konnten - üblicherweise bis es zu spät war, als daß es noch wichtig gewesen wäre. Erst dann wurde stets alles verständlich.« Alviarin schwieg weiterhin. Keine der Auserwählten unterhielt sich - sie befahlen oder forderten nur. »Bemerkenswerte Prophezeiungen. Die Aufrührer zu zerbrechen - wie verfaulte Melonen -, gehörte das dazu?« »Ich bin nicht sicher, Große Herrin«, sagte Alviarin zögernd - war es Teil davon gewesen? -, aber Mesaana zuckte nur die Achseln.
»Entweder ja oder nein, und beides kann genutzt werden.«
»Sie ist gefährlich, Große Herrin. Ihr Talent könnte offenbaren, was nicht offenbart werden sollte.«
Kristallenes Lachen antwortete ihr. »Wie zum Beispiel? Dich? Deine Schwestern von den Schwarzen Ajah? Oder willst du mich vielleicht schützen? Du bist manchmal ein gutes Mädchen.« Die silberhelle Stimme klang belustigt. Alviarin spürte, wie sie errötete, und hoffte, daß Mesaana es als Scham, nicht als Verärgerung auslegte. »Willst du damit anregen, daß wir uns unserer Elaida entledigen sollten? Noch nicht, denke ich. Sie kann noch von Nutzen sein. Zumindest bis der junge al'Thor uns erreicht, und sehr wahrscheinlich auch noch danach. Schreibe ihre Befehle auf und sorge für deren Ausführung. Es ist sicherlich amüsant, sie beim Spielen ihrer kleinen Spiele zu beobachten. Ihr Kinder paßt manchmal richtig zur Ajah. Wird es ihr gelingen, den König von Illian und die Königin von Saldaea zu entführen? Ihr Aes Sedai pflegtet das zu tun, nicht wahr, aber nicht mehr seit - wann? - zweitausend Jahren? Wen wird sie auf den Thron in Cairhien bringen? Wird das Angebot, König in Tear zu werden, die Abneigung des hohen Herrn Dariin gegen die Aes Sedai bezwingen? Wird unsere Elaida vorher an ihrer eigenen Enttäuschung ersticken? Schade, daß sie sich dem Gedanken an ein größeres Heer widersetzt. Ich hätte gedacht, daß sie sich bei ihrem Ehrgeiz begeistert darauf stürzen würde.«
Die Unterredung ging dem Ende entgegen. Diese Gespräche dauerten niemals länger als Alviarin brauchte, um Bericht zu erstatten und ihre Befehle entgegenzunehmen, aber sie mußte noch eine Frage stellen. »Die Schwarze Burg, Große Herrin...« Alviarin benetzte ihre Lippen. Sie hatte viel gelernt, seit ihr Ishamael erschienen war, wovon nicht das Unwichtigste war, daß die Auserwählten weder allmächtig noch allwissend waren. Sie war aufgestiegen, weil Ishamael ihre Vorgängerin aus Zorn über seine Entdeckung, was Jarna Malari begonnen hatte, getötet hatte. Aber es hatte erst zwei Jahre später geendet, nach dem Tod einer weiteren Amyrlin. Alviarin hatte sich oft gefragt, ob Elaida mit deren - Sierin Vayus - Tod zu tun gehabt hatte. Für die Schwarze Ajah galt das sicherlich nicht. Jarna hatte Tamra Ospenya, die Amyrlin vor Sierin, wie eine Traube auspressen lassen - wodurch sie nur wenig Saft erhalten hatte, wie sich herausstellte - und dann den Eindruck entstehen lassen, sie sei im Schlaf gestorben, aber Alviarin und die anderen zwölf Schwestern des Großen Konzils hatten viele Qualen auf sich nehmen müssen, bevor sie Ishamael davon überzeugen konnten, daß sie nicht dafür verantwortlich waren. Die Auserwählten waren nicht allmächtig und wußten nicht alles, und doch wußten sie manchmal etwas, was andere nicht einmal ahnten. Es konnte jedoch gefährlich sein, Fragen zu stellen. ›Warum‹ war die gefährlichste Frage. Die Auserwählten mochten niemals nach dem Warum gefragt werden. »Ist es ausreichend, fünfzig Schwestern auszuschicken, Große Herrin?«
Augen, die wie Zwillingsvollmonde leuchteten, betrachteten sie ruhig, und ein Frösteln lief Alviarins Rückgrat hinauf. Jarnas Schicksal kam ihr blitzartig in den Sinn. Allgemein als Graue bekannt, hatte Jarna niemals ein Interesse an dem Ter'angreal gezeigt, für das niemand einen Verwendungszweck wußte - bis zu dem Tag, an dem sie in einem seit Jahrhunderten unerprobten Ter'angreal gefangen wurde. Wie er gebraucht wurde, blieb noch immer ein Geheimnis. Zehn Tage lang konnte niemand sie erreichen, sondern nur ihren erstickten Schreien lauschen. Die meisten Bewohner der Burg hielten Jarna für ein Musterbeispiel an Tugend. Als das, was hätte entdeckt werden können, begraben wurde, nahmen alle Schwestern in Tar Valon und jedermann, der die Stadt rechtzeitig erreichen konnte, an der Beerdigung teil.
»Du bist neugierig, Kind«, sagte Mesaana schließlich. »Das kann, wenn es in die richtige Bahn gelenkt wird, ein Vorteil sein. Wird es allerdings in die falsche Bahn gelenkt...« Die Drohung hing wie ein schimmernder Dolch in der Luft.
»Ich werde meine Neugier in die von Euch befohlene Bahn lenken, Große Herrin«, flüsterte Alviarin rauh. Ihr Mund war staubtrocken. »Nur wie Ihr befehlt.« Aber sie würde dennoch dafür sorgen, daß keine Schwarzen Schwestern mit Toveine gingen. Mesaana regte sich, ragte über ihr auf, so daß sie den Hals recken mußte, um zu diesem aus Licht und Schatten bestehenden Gesicht hinaufzusehen, und plötzlich fragte sie sich, ob die Auserwählten ihre Gedanken kannten.
»Wenn du mir dienen willst, Kind, dann mußt du mir dienen und gehorchen. Nicht Semirhage oder Demandred. Nicht Graendal oder sonst jemandem. Nur mir. Und dem Großen Herrn natürlich, aber außer ihm vor allen anderen mir.«
»Ich lebe, um Euch zu dienen, Große Herrin.« Die Worte wurden krächzend hervorgebracht, aber es gelang ihr dennoch, die angefügten Worte zu betonen.
Einen langen Moment sahen die silberhellen Augen unverwandt zu ihr herab. Dann sagte Mesaana: »Gut. Dann werde ich dich lehren. Aber rufe dir in Erinnerung, daß ein Schüler kein Lehrer ist. Ich bestimme, wer welche Dinge lernt, und ich entscheide, wann dieses Wissen genutzt werden kann. Sollte ich feststellen, daß du auch nur das Geringste weitergegeben oder auch nur eine Kleinigkeit ohne meine Anweisung benutzt hast, werde ich dich vernichten.«
Die glockenreine Stimme klang nicht verärgert, sondern nur sachlich. »Ich lebe, um Euch zu dienen, Große Herrin. Ich lebe, um Euch zu gehorchen, Große Herrin.« Sie hatte soeben etwas über die Auserwählten gelernt, was sie kaum glauben konnte. Wissen war Macht.
»Du hast ein wenig Kraft, Kind. Nicht viel, aber genug.«
Ein Gewebe erschien scheinbar aus dem Nichts.
»Dies«, sang Mesaana, »nennt man ein Wegetor.«
Pedron Niall brummte, als Morgase mit triumphierendem Lächeln einen weißen Stein auf dem Spielbrett setzte. Schlechtere Spieler hätten vielleicht noch zwei Dutzend mehr Steine gesetzt, aber er konnte den unausweichlichen Verlauf jetzt genauso erkennen wie sie. Zu Beginn hatte die blonde Frau, die ihm an dem kleinen Tisch gegenübersaß, gespielt, als wollte sie verlieren, um es für ihn interessanter zu machen, aber es hatte nicht lange gedauert, bis sie erkannte, daß dies zu ihrer Niederlage geführt hätte. Ganz zu schweigen davon, daß er klug genug war, die List zu erkennen und sie nicht duldete. Jetzt setzte sie all ihr Können ein und es gelang ihr, fast die Hälfte ihrer Spiele zu gewinnen. Seit etlichen Jahren hatte ihn niemand mehr so häufig besiegt.