Loial wirkte bestürzt und verzog das Gesicht, wobei die langen Augenbrauen seine Wangen streiften. »Du weißt, daß ich nicht flüstern kann.« Dieses Mal konnte ihn wahrscheinlich niemand mehr deutlich verstehen, der mehr als drei Schritte entfernt war. »Was werden wir tun, Perrin? Es ist falsch, Aes Sedai gegen ihren Willen festzuhalten, falsch und auch verbohrt. Ich habe das schon früher gesagt, und ich werde es wieder sagen. Und das ist nicht das Schlimmste. Ich spüre hier... Ein Funke, und dieser Ort wird wie eine Wagenladung Feuerwerk in die Luft fliegen. Weiß Rand davon?«
»Ich weiß es nicht«, lautete Perrins Antwort auf beide Fragen, und der Ogier nickte kurz darauf widerwillig.
»Jemand muß es wissen, Perrin. Jemand muß etwas tun.« Loial blickte nach Norden, über die Wagen hinter Perrin hinweg, und Perrin wußte, daß er die Entscheidung nicht länger aufschieben konnte.
Er wandte Traber widerwillig um. Er hätte sich lieber weiterhin um Aes Sedai und Asha'man und Weise Frauen gekümmert, aber was getan werden mußte, mußte getan werden. Denk an Hoch Chasaline an das Gute.
2
Der Schlachthof
Perrin vermied es, zu der Stelle unten am Hang hinzusehen, zu der er reiten würde - zu der er heute morgen mit Rand hätte reiten sollen. Statt dessen hielt er vor den Wagen inne und ließ seinen Blick überall sonst hin schweifen, obwohl ihm alles, was er sah, Übelkeit verursachte. Ihm war, als würde sein Magen mit einem Hammer bearbeitet.
Hammerschlag. Neunzehn frische Gräber auf einem niedrigen Hügel im Osten, neunzehn Männer von den Zwei Flüssen, die die Heimat niemals Wiedersehen würden. Nur selten mußte ein Hufschmied Menschen wegen seiner Entscheidung sterben sehen. Zumindest hatten die Männer seinen Befehlen gehorcht, sonst wären es noch mehr Gräber gewesen. Hammerschlag. Rechtecke frisch aufgeworfener Erde auch auf dem gegenüberliegenden Hügel - annähernd hundert Mayener und noch mehr Cairhiener, die zu den Quellen Dumais gekommen waren, um zu sterben. Ungeachtet der Umstände, waren sie Perrin Aybara gefolgt.
Hammerschlag. Die Vorderseite des Hügels schien nur aus Gräbern zu bestehen, vielleicht tausend oder mehr. Eintausend Aiel, die aufrecht stehend verbrannt waren. Eintausend. Einige waren Töchter des Speers gewesen. Beim Gedanken an die Männer verkrampfte sich sein Magen. Der Gedanke an die Frauen erweckte in ihm das Gefühl, sich hinsetzen und weinen zu wollen. Er versuchte sich einzureden, daß sie es alle erwählt hatten, hier zu sein, daß sie hatten hier sein müssen. Beides stimmte, aber er hatte die Befehle gegeben, und dadurch trug er die Verantwortung für jene Gräber. Nicht Rand, nicht die Aes Sedai - er.
Die überlebenden Aiel hatten ihre Todesgesänge erst vor kurzem beendet, spukhafte Gesänge, auszugsweise gesungen, die im Geist verweilten.
Das Leben ist ein Traum, der keine Schatten kennt.
Das Leben ist ein Traum aus Schmerz und Weh.
Ein Traum, aus dem zu erwachen wir beten.
Ein Traum, aus dem wir erwachen und fortgehen.
Wer würde schlafen, wenn die neue Dämmerung wartet?
Wer würde schlafen, wenn die linden Winde wehen?
Ein Traum muß enden, wenn der neue Tag erwacht.
Dieser Traum, aus dem wir aufwachen und fortgehen.
Sie schienen in jenen Gesängen Trost zu finden. Perrin wünschte, er könnte das auch, aber die Aiel kümmerte es, soweit er erkennen konnte, wirklich nicht, ob sie lebten oder starben, und das war verrückt. Jeder vernünftige Mensch wollte leben. Jeder vernünftige Mensch würde so weit und so schnell wie möglich vor einer Schlacht davonlaufen.
Traber warf den Kopf hoch, die Nüstern weiteten sich aufgrund der von unten heranwehenden Gerüche, und Perrin tätschelte dem Hengst den Hals. Aram grinste, während er betrachtete, was Perrin zu vermeiden versuchte. Loials Gesicht war ausdruckslos, als wäre es aus Holz geschnitzt. Er bewegte leicht die Lippen, und Perrin glaubte zu hören: »Licht, laß mich so etwas nie wieder sehen.« Er atmete tief ein und zwang sich dann, ebenfalls hinzusehen - zu den Quellen von Dumai.
Es war in gewisser Weise nicht so schlimm wie der Anblick der Gräber - er hatte einige jener Menschen seit seiner Kinderzeit gekannt -, aber das alles traf ihn dennoch mit einer Wucht, als hätte der Geruch in seiner Nase Gestalt angenommen und ihn überwältigt. Die Erinnerungen, die er vergessen wollte, drängten wieder herauf. Die Quellen von Dumai waren ein Ort des Tötens geworden, ein Ort des Sterbens, aber jetzt war es noch schlimmer. Weniger als eine Meile entfernt standen die verkohlten Überreste der Wagen um ein Unterholz verteilt, das die niedrigen Mauerkrönungen der Brunnen fast verbarg. Und rings herum...
Ein brodelndes Meer von Schwarz: Geier, Raben und Krähen zu Zehntausenden, die in Wogen aufwirbelten und sich wieder niederließen. Die Asha'man hatten grausame Methoden. Sie vernichteten Menschen und Natur mit gleicher Unparteilichkeit. Zu viele Shaido waren gestorben, als daß man sie alle am ersten Tag hätte begraben können, aber es hatte sich niemand die Mühe gemacht, überhaupt welche zu begraben, so daß die Geier und Raben und Krähen sie jetzt verschlangen. Auch die toten Wölfe lagen dort unten. Perrin hatte sie begraben wollen, aber das widersprach der Art der Wölfe. Drei tote Aes Sedai waren gefunden worden, deren Fähigkeit, die Macht zu lenken, sie im Wahnsinn des Kampfes nicht vor Speeren und Pfeilen hatte retten können, und auch ein halbes Dutzend tote Behüter. Sie waren auf der Lichtung in der Nähe der Brunnen verbrannt.
Die Vögel waren nicht allein mit den Toten. Beileibe nicht. Schwarz gefederte Wogen stiegen um Lord Dobraine Taborwin und über zweihundert seiner berittenen cairhienischen Waffenträger sowie Lord Havien Nurelle mit den außer den Wächtern der Behüter verbliebenen Mayenern auf. Der Con mit zwei weißen Diamanten auf Blau kennzeichnete alle cairhienischen Offiziere außer Dobraine selbst. Die roten Rüstungen und mit roten Wimpeln versehenen Lanzen hatten sich inmitten des Gemetzels tapfer gehalten, aber Dobraine war nicht der einzige, der sich jetzt ein Tuch vor die Nase hielt. Hier und da lehnte sich ein Mann aus dem Sattel und versuchte, einen Magen zu entleeren, der schon vorher entleert worden war. Mazrim Taim, der fast so groß war wie Rand, war in seinem schwarzen Umhang mit den blaugoldenen, sich die Ärmel hinaufziehenden Drachen zu Fuß, wie auch ungefähr einhundert Asha'man. Einige von ihnen entleerten ebenfalls ihre Mägen. Da waren Dutzende Töchter des Speers, mehr
Siswai'aman als Cairhiener und Mayener und Asha'man zusammen und noch dazu mehrere Dutzend Weise Frauen. Alle vermutlich für den Fall, daß die Shaido zurückkehrten, oder vielleicht auch für den Fall, daß einige der Toten sich nur verstellten, obwohl Perrin glaubte, daß jedermann, der hier eine Leiche zu sein vorgab, bald verrückt werden müßte. Alle scharten sich um Rand.
Perrin hätte dort unten bei den Leuten von den Zwei Flüssen sein sollen. Rand hatte um sie gebeten, hatte davon gesprochen, Männern aus der Heimat trauen zu können, aber Perrin hatte nichts versprochen. Er wird sich mit mir begnügen müssen, wenn auch verspätet, dachte er. Bald, wenn es ihm gelang, sich in den Schlachthof dort unten zu begeben, obwohl Schlachtermesser keine Menschen niedermähten und genauer waren als Streitäxte und Geier.
Die schwarz gewandeten Asha'man verschwanden im Meer der Vögel, Tod von Tod verschlungen, und aufsteigende Raben und Krähen verbargen weitere. Nur Rand hob sich in dem zerrissenen weißen Hemd ab, das er getragen hatte, als die Rettung nahte. Wenn er zu jener Zeit vielleicht auch kaum Rettung gebraucht hätte. Beim Anblick Mins, in einem hellroten Umhang und gut sitzender Hose, verzog Perrin das Gesicht. Dies war kein Ort für sie oder sonst jemanden, aber sie blieb Rand seit seiner Rettung sogar noch näher, als Taim es tat. Rand hätte es irgendwie geschafft, sowohl sich selbst als auch sie einige Zeit vor Perrins Durchbruch oder dem der Asha'man zu befreien, und Perrin vermutete, daß Min Rands Gegenwart als die einzige wahre Sicherheit ansah.