Während Rand über den verkohlten Boden schritt, tätschelte er bisweilen Mins Arm oder beugte den Kopf, als spreche er mit ihr, aber ihr galt nicht seine eigentliche Aufmerksamkeit. Dunkle Vogelwolken bauschten sich um sie herum. Die kleineren Vögel schossen davon, um woanders zu fressen, während die Geier nur widerwillig wichen, die kahlen Hälse reckten und trotzig kreischten. Rand blieb hin und wieder stehen und beugte sich über einen Leichnam. Manchmal schoß Feuer aus seinen Händen und wehrte einen Geier ab, der nicht weichen wollte. Jedesmal stritten entweder Nandera, welche die Töchter des Speers anführte, oder Sulin, ihre Stellvertreterin, mit ihm. Manchmal übernahmen dies auch Weise Frauen, wie aus der Art zu ersehen war, wie sie am Umhang eines Leichnams zogen, als wollten sie etwas verdeutlichen. Rand nickte und ging weiter, jedoch nicht ohne zurückzublicken und auch erst dann, wenn ein anderer Leichnam seine Aufmerksamkeit erregte.
»Was tut er?« fragte eine überhebliche Stimme an Perrins Knie. Er erkannte die Frau am Geruch, noch bevor er hinabblickte. Kiruna Nachiman, die Schwester König Paitars von Arafel und eine mächtige, unabhängige Adlige, wirkte in ihrem grünen, seidenen Reitgewand und dem dünnen Leinenstaubmantel statuenhaft und vornehm, und daß sie eine Aes Sedai geworden war, hatte ihre Haltung nicht verändert. Von dem Anblick gefangen, der sich ihm bot, hatte er sie nicht kommen hören. »Warum ist er dort unten in diesem Chaos? Das sollte nicht sein.«
Nicht alle Aes Sedai im Lager waren Gefangene, obwohl sich jene, die es nicht waren, seit gestern abseits hielten, nur untereinander sprachen, wie Perrin vermutete, und herauszufinden versuchten, was in den letzten Stunden geschehen war. Vielleicht versuchten sie auch einen Ausweg zu finden. Jetzt hatten sie ihre Kräfte versammelt. Bera Harkin, eine weitere Grüne, stand neben Kiruna. Bera Harkin wirkte trotz ihres alterslosen Gesichts und ihrer edlen Tuchkleidung wie eine Bauersfrau, die aber auf ihre Art genauso stolz wirkte wie Kiruna. Diese Bauersfrau konnte einem König befehlen, seine Stiefel zu säubern, bevor er ihr Haus betrat, und auch darauf bestehen. Sie und Kiruna führten die Schwestern gemeinsam an, die mit Perrin zu den Brunnen von Dumai gekommen waren, oder vielleicht wechselten sie sich auch in der Führung ab. Es war nicht ganz eindeutig, was bei Aes Sedai nicht ungewöhnlich war.
Die anderen sieben Frauen standen nicht weit entfernt in einer Gruppe zusammen. Stolze Löwinnen, die durch ihre geschäftig wirkende Haltung nicht verzagt aussahen. Ihre Behüter standen hinter ihnen aufgereiht, aber während die Schwestern äußerlich vollkommen heiter wirkten, machten die Behüter keinen Hehl aus ihren düsteren Empfindungen. Es waren grundverschiedene Männer, einige in jenen die Farbe verändernden Umhängen, die sie teilweise unsichtbar erscheinen ließen.
Perrin kannte zwei der Frauen gut: Verin Mathwin und Alanna Mosvani. Verin war klein und gedrungen und manchmal verwirrend mütterlich, wenn sie einen nicht gerade betrachtete wie ein Vogel einen Wurm. Sie gehörte der Braunen Ajah an. Alanna, schlank und auf düstere Art hübsch, wenn auch in letzter Zeit aus irgendeinem Grund ein wenig abgezehrt um die Augen, war eine Grüne. Insgesamt waren fünf der neun Frauen Grüne. Verin hatte ihm vor einiger Zeit geraten, Alanna nicht allzu weit zu trauen, und er nahm ihre Worte überaus ernst. Er traute auch keiner der anderen, einschließlich Verin. Rand tat dies ebenfalls nicht, trotz des Umstands, daß sie gestern auf seiner Seite gekämpft hatten, und trotz allem, was am Ende geschehen war. Auch Perrin war sich noch immer nicht sicher, das Geschehene glauben zu können, obwohl er deren Zeuge gewesen war.
Ein gutes Dutzend Asha'man lungerten an einem Wagen ungefähr zwanzig Schritte von den Schwestern entfernt herum. Heute morgen befehligte sie ein eingebildeter Bursche namens Charl Gedwyn, ein Mann mit hartem Gesicht. Sie alle trugen eine Anstecknadel in Form eines silbernen Schwertes an einer Seite ihrer hohen Kragen, und außer Gedwyn trugen noch vier oder fünf andere Männer einen Drachen in goldrotem Emaille an der anderen Seite. Perrin vermutete, daß dies irgendwie mit ihrem Rang zu tun hatte. Er hatte beide Anstecknadeln auch an einigen anderen Asha'man bemerkt. Sie waren nicht im eigentlichen Sinne Wächter, aber sie hielten sich stets dort auf, wo immer Kiruna und die übrigen sich aufhielten. Sie standen einfach ruhig da und hielten ein wachsames Auge auf alles. Nicht daß die Aes Sedai Notiz davon nahmen - nicht so, daß man es sehen konnte, aber die Schwestern rochen dennoch wachsam und verwirrt und zornig. Ein Teil dieser Empfindungen mußte den Asha'man zuzuschreiben sein.
»Nun?« Kirunas dunkle Augen blitzten ungeduldig auf. Perrin bezweifelte, daß viele Menschen sie warten ließen.
»Ich weiß es nicht«, log er und tätschelte erneut Trabers Hals. »Rand sagt mir nicht alles.«
Er begriff zwar ein wenig von alledem - zumindest glaubte er es -, aber er hatte nicht die Absicht, es jemandem zu erzählen. Das war Rands Aufgabe, wenn er es wollte. Perrin war davon überzeugt daß Rand ausschließlich die Leichname von Töchtern des Speers betrachtete, zweifellos Shaido-Tochter des Speers, aber er fragte sich, welchen Unterschied das für Rand machte. Gestern abend hatte Perrin sich von den Wagen entfernt, um allein zu sein, und als er das Lachen der überlebenden Männer hinter sich gelassen hatte, fand er Rand. Der Wiedergeborene Drache, der die Welt erzittern ließ, saß in der Dunkelheit allein auf dem Boden, die Arme um sich geschlungen, und wiegte sich vor und zurück.
Für Perrins Sehvermögen war Mondlicht fast genauso gut wie Sonnenlicht, aber in dem Moment wünschte er sich finstere Dunkelheit herbei. Rands Gesicht war schmerzverzerrt, das Gesicht eines Mannes, der schreien oder vielleicht weinen wollte, diesen Drang aber mit jeder Faser seines Seins bekämpfte. Welche List auch immer die Aes Sedai kannten, um von der Hitze nicht berührt zu werden - Rand und die Asha'man kannten sie ebenfalls, aber Rand benutzte sie jetzt nicht. Die Hitze der Nacht hatte einem überaus warmen Sommertag zur Ehre gereicht, und Schweiß lief genauso Rands wie Perrins Wangen hinab.
Rand sah sich nicht um, obwohl Perrins Stiefel in dem verdorrten Gras laut raschelten, aber er sprach heiser, wobei er sich noch immer wiegte. »Einhunderteinundfünfzig, Perrin. Einhunderteinundfünfzig Töchter des Speers sind heute gestorben. Für mich. Ich habe es ihnen versprochen, verstehst du. Streite nicht mit mir! Schweig! Geh weg!« Rand erschauderte trotz des Schweißes. »Nicht du, Perrin, nicht du. Ich muß mein Versprechen halten, verstehst du. Ich muß es tun, gleichgültig wie sehr es schmerzt. Aber ich muß auch mein Versprechen mir gegenüber halten. Gleichgültig wie sehr es schmerzt.«
Perrin wollte, nicht über das Schicksal der Menschen nachdenken, die die Macht lenken konnten. Die Glücklichen unter ihnen starben, bevor sie wahnsinnig wurden. Die Unglücklichen starben danach. Aber ob Rand zu den Glücklichen oder den Unglücklichen gehörte - alles lastete auf ihm. Alles. »Rand, ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber...«
Rand schien ihn nicht zu hören. Er wiegte sich vor und zurück, immer wieder. »Isan von der Jarra-Septime der Chareen Aiel. Sie ist heute für mich gestorben. Chuonde von den Miagoma vom Rückgrat der Welt. Sie ist heute für mich gestorben. Agirin von den Daryne...«
Er hätte nichts anderes zu tun vermocht, als sich hinzukauern und zuzuhören, wie Rand mit einer vor Schmerz fast brechenden Stimme alle einhunderteinundfünfzig Namen hersagte, und zu hoffen, daß er nicht wahnsinnig wurde.