Der Rückschaufehler ist einer der hartnäckigsten Denkfehler überhaupt. Man kann ihn treffend als Ich-hab’s-schon-immer-gewusst-Phänomen bezeichnen: Rückblickend scheint alles einer einsichtigen Notwendigkeit zu folgen.
Ein CEO, der durch glückliche Umstände zum Erfolg gekommen ist, schätzt die Wahrscheinlichkeit seines Erfolgs rückblickend viel höher ein, als sie objektiv war. Kommentatoren fanden Ronald Reagans gigantischen Wahlsieg über Jimmy Carter im Jahr 1980 nachträglich nachvollziehbar, ja zwingend – obwohl die Wahl bis wenige Tage vor dem Stichtag auf Messers Schneide lag. Wirtschaftsjournalisten schreiben heute, dass die Dominanz von Google unabwendbar gewesen sei – obwohl jeder von ihnen gelächelt hätte, wenn dem Internet-Start-up 1998 eine solche Zukunft prognostiziert worden wäre. Und noch ein besonders krasses Beispieclass="underline" Dass ein einziger Schuss in Sarajewo 1914 die Welt für die nächsten 30 Jahre komplett umpflügen und 50 Millionen Menschenleben kosten würde, scheint rückblickend tragisch, aber plausibel. Jedes Kind lernt es in der Schule. Doch damals, 1914, hätte sich niemand vor einer solchen Eskalation gefürchtet. Zu absurd hätte sie geklungen.
Warum ist der Rückschaufehler so gefährlich? Weil er uns glauben macht, wir seien bessere Vorhersager, als wir es tatsächlich sind. Das macht uns arrogant und verleitet uns zu falschen Entscheidungen. Und das durchaus auch bei privaten »Theorien«: »Hast du gehört? Sylvia und Klaus sind nicht mehr zusammen. Das konnte ja nur schiefgehen, so verschieden, wie die beiden sind.« Oder: »Das konnte ja nur schiefgehen, die beiden sind sich einfach zu ähnlich.« Oder: »Das konnte ja nur schiefgehen, die beiden klebten ja immer aneinander.« Oder: »Das konnte ja nur schiefgehen, die sahen sich ja kaum.«
Den Rückschaufehler zu bekämpfen, ist nicht einfach. Studien haben gezeigt, dass Leute, die ihn kennen, genauso häufig in die Falle tappen wie alle anderen. Insofern haben Sie beim Lesen dieses Kapitels Zeit verschwendet.
Doch noch ein Tipp, mehr aus persönlicher denn aus wissenschaftlicher Erfahrung: Führen Sie ein Tagebuch. Schreiben Sie Ihre Vorhersagen – zu Politik, Karriere, Körpergewicht, Börse – nieder. Vergleichen Sie Ihre Notizen von Zeit zu Zeit mit der tatsächlichen Entwicklung. Sie werden erstaunt sein, welch schlechter Prognostiker Sie sind. Und: Lesen Sie Geschichte ebenso. Nicht die nachträglichen, kompakten Theorien. Sondern lesen Sie die Tagebücher, Zeitungsausschnitte, Protokolle aus jener Zeit. Das wird Ihnen ein viel besseres Gefühl für die Unvorhersehbarkeit der Welt geben.
Warum Sie Nachrichtensprecher nicht ernst nehmen dürfen
Nachdem er den Physik-Nobelpreis 1918 erhalten hatte, ging Max Planck auf Tournee durch ganz Deutschland. Wo auch immer er eingeladen wurde, hielt er denselben Vortrag zur neuen Quantenmechanik. Mit der Zeit wusste sein Chauffeur den Vortrag auswendig. »Es muss Ihnen langweilig sein, Herr Professor Planck, immer denselben Vortrag zu halten. Ich schlage vor, dass ich das für Sie in München übernehme, und Sie sitzen in der vordersten Reihe und tragen meine Chauffeur-Mütze. Das gäbe uns beiden ein bisschen Abwechslung.« Planck war amüsiert und einverstanden, und so hielt der Chauffeur vor einem hochkarätigen Publikum den langen Vortrag zur Quantenmechanik. Nach einer Weile meldete sich ein Physikprofessor mit einer Frage. Der Chauffeur antwortete: »Nie hätte ich gedacht, dass in einer so fortschrittlichen Stadt wie München eine so einfache Frage gestellt würde. Ich werde meinen Chauffeur bitten, die Frage zu beantworten.«
Nach Charlie Munger, einem der weltbesten Investoren, von dem ich die Planck-Geschichte habe, gibt es zwei Arten von Wissen. Zum einen das echte Wissen. Es stammt von Menschen, die ihr Wissen mit einem großen Einsatz von Zeit und Denkarbeit bezahlt haben. Zum anderen eben das Chauffeur-Wissen. Die Chauffeure im Sinne von Mungers Geschichte sind Leute, die so tun, als würden sie wissen. Sie haben gelernt, eine Show abzuziehen. Sie besitzen vielleicht eine tolle Stimme oder sehen überzeugend aus. Doch das Wissen, das sie verbreiten, ist hohl. Eloquent verschleudern sie Worthülsen.
Leider wird es immer schwieriger, das echte Wissen vom Chauffeur-Wissen zu trennen. Bei den Nachrichtensprechern ist es noch einfach. Das sind Schauspieler. Punkt. Jeder weiß es. Und doch überrascht es immer wieder, welchen Respekt man diesen Meistern der Floskeln zollt. Sie werden für viel Geld eingeladen, Panels und Podien zu moderieren, deren Themen sie kaum gewachsen sind.
Bei den Journalisten ist es schon schwieriger. Hier gibt es einige, die sich solides Wissen angeeignet haben. Oft die älteren Semester, Journalisten, die sich über Jahre auf einen klar umrissenen Themenkranz spezialisiert haben. Sie sind ernsthaft bemüht, die Komplexität eines Sachverhalts zu verstehen und abzubilden. Sie schreiben tendenziell lange Artikel, die eine Vielzahl von Fällen und Ausnahmen beleuchten.
Die Mehrheit der Journalisten fällt leider in die Chauffeur-Kategorie. In kürzester Zeit zaubern sie Artikel zu jedem beliebigen Thema aus dem Hut, oder besser: aus dem Internet. Ihre Texte sind einseitig, kurz und – oft als Kompensation für ihr Chauffeur-Wissen – ironisch.
Je größer eine Unternehmung, desto mehr erwartet man vom CEO Showqualität – sogenannte kommunikative Kompetenz. Ein stiller, verstockter, aber seriöser Schaffer, das geht nicht, zumindest nicht an der Spitze. Die Aktionäre und Wirtschaftsjournalisten glauben offenbar, dass ein Showman für bessere Resultate sorgt – was natürlich nicht der Fall ist.
Warren Buffett – Charlie Mungers Partner – verwendet einen wunderbaren Begriff: »Circle of Competence«. Zu Deutsch: Kompetenzkreis. Was innerhalb des Kreises liegt, versteht man wie ein Profi. Was außerhalb liegt, versteht man nicht oder nur zum Teil. Buffetts Lebensmotto: »Kennen Sie Ihren Kompetenzkreis, und bleiben Sie darin. Es ist nicht so furchtbar wichtig, wie groß dieser Kreis ist. Aber es ist furchtbar wichtig zu wissen, wo genau die Kreislinie verläuft.« Charlie Munger doppelt nach: »Sie müssen herausfinden, wo Ihre Talente liegen. Falls Sie Ihr Glück außerhalb Ihres Kompetenzkreises versuchen, werden Sie eine lausige Karriere haben. Ich kann es Ihnen fast garantieren.«
Fazit: Misstrauen Sie dem Chauffeur-Wissen. Verwechseln Sie den Firmensprecher, den Showman, den Nachrichtensprecher, den Plauderer, den Worthülsenbastler, den Klischeekolporteur nicht mit einem wirklich Wissenden. Wie erkennen Sie den? Es gibt ein klares Signal. Wirklich Wissende wissen, was sie wissen – und was nicht. Befindet sich jemand von diesem Kaliber außerhalb seines »Kompetenzkreises«, sagt er entweder gar nichts oder: »Das weiß ich nicht.« Er sagt diesen Satz ohne Pein, ja sogar mit einem gewissen Stolz. Von Chauffeuren hört man alles andere, nur diesen Satz nicht.
Sie haben weniger unter Kontrolle, als Sie denken
Jeden Tag, kurz vor neun Uhr, stellt sich ein Mann mit einer roten Mütze auf einen Platz und beginnt, die Mütze wild hin und her zu schwenken. Nach fünf Minuten verschwindet er wieder. Eines Tages tritt ein Polizist vor ihn: »Was tun Sie da eigentlich?« »Ich vertreibe die Giraffen.« »Es gibt keine Giraffen hier.« »Tja, ich mach eben einen guten Job.«
Ein Freund mit Beinbruch, ans Bett gefesselt, bat mich, für ihn am Kiosk einen Lottoschein zu kaufen. Ich kreuzte sechs Zahlen an, schrieb seinen Namen drauf und bezahlte. Als ich ihm die Kopie des Lottozettels überreichte, sagte er unwirsch: »Warum hast du den Zettel ausgefüllt? Ich wollte ihn ausfüllen. Mit deinen Zahlen werde ich bestimmt nichts gewinnen!« »Denkst du wirklich, du kannst die Kugeln durch dein eigenhändiges Ankreuzen irgendwie beeinflussen?«, entgegnete ich. Er schaute mich verständnislos an.