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THE BASE-RATE NEGLECT

Wenn du in Wyoming Hufschläge hörst und schwarz-weiße Streifen siehst …

Markus ist ein dünner Mann mit Brille, der gern Mozart hört. Was ist wahrscheinlicher? A) Markus ist Lkw-Fahrer oder B) Markus ist Literaturprofessor in Frankfurt. Die meisten tippen auf B. Das ist falsch. Es gibt 10.000-mal mehr Lkw-Fahrer in Deutschland als Literaturprofessoren in Frankfurt. Daher ist es viel wahrscheinlicher, dass Markus ein Lastwagenfahrer ist – selbst wenn er gern Mozart hört. Was ist passiert? Die präzise Beschreibung hat uns dazu verführt, den kühlen Blick von der statistischen Wahrheit abzuwenden. Die Wissenschaft nennt diesen Denkfehler Base-Rate Neglect. Ein deutscher Ausdruck fehlt. Man könnte umständlich von einer »Vernachlässigung der Grundverteilung« reden. Der Base-Rate Neglect gehört zu den häufigsten Denkfehlern. Praktisch alle Journalisten, Ökonomen und Politiker fallen regelmäßig auf ihn herein.

Zweites Beispieclass="underline" Bei einer Messerstecherei wird ein Junge tödlich verletzt. Was ist wahrscheinlicher? A) Der Täter ist ein Bosnier, der illegal Kampfmesser importiert, oder B) der Täter ist ein deutscher Junge aus dem Mittelstand. Sie kennen die Argumentation nun: Antwort B ist viel wahrscheinlicher, weil es extrem viel mehr deutsche Jugendliche gibt als bosnische Messerimporteure.

In der Medizin spielt der Base-Rate Neglect eine wichtige Rolle. Migräne zum Beispiel kann eine Virusinfektion oder einen Hirntumor bedeuten. Virusinfektionen sind viel häufiger (höhere Base-Rate) als Hirntumore. Also kommt der Arzt zunächst zu der vorläufigen Annahme, dass es sich nicht um einen Tumor, sondern um ein Virus handelt. Das ist sehr vernünftig. Im Medizinstudium wird angehenden Ärzten der Base-Rate Neglect mühsam wegtrainiert. Der Standardsatz, der jedem angehenden Arzt in den USA eingepaukt wird, lautet: »Wenn du in Wyoming Hufschläge hörst und glaubst, schwarz-weiße Streifen zu sehen, so ist es vermutlich doch ein Pferd.« Will heißen: Schaut euch zuerst die Grundwahrscheinlichkeiten an, bevor ihr euch aufmacht, exotische Krankheiten zu prognostizieren. Leider sind die Ärzte die einzige Berufsgattung, die in den Genuss des Base-Rate-Trainings kommt.

Ich sehe ab und zu hochfliegende Businesspläne von Jungunternehmern und bin nicht selten von ihren Produkten, Ideen und Persönlichkeiten begeistert. Oft erwische ich mich beim Gedanken: Das könnte das nächste Google sein! Doch ein Blick auf die Base-Rate holt mich wieder auf den Boden zurück. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Firma die ersten fünf Jahre überlebt, liegt bei 20 %. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie danach zu einem globalen Konzern heranwächst? Fast null. Warren Buffett hat einmal erklärt, warum er nicht in Biotechfirmen investiert: »Wie viele dieser Firmen machen einen Umsatz von mehreren Hundert Millionen Dollar? Das kommt einfach nicht vor … Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass diese Firmen irgendwo im Mittelfeld stecken bleiben.« Das ist klares Base-Rate-Denken.

Angenommen, in einem Restaurant sollen Sie durch Degustieren erraten, aus welchem Land ein Wein stammt. Das Etikett der Flasche ist abgedeckt. Falls Sie – wie ich – kein Weinkenner sind, hilft Ihnen nur der geistige Blick in die Base-Rates. Aus Erfahrung wissen Sie, dass etwa drei Viertel der Weine auf der Karte dieses Etablissements französischer Herkunft sind. Also tippen Sie vernünftigerweise auf Frankreich, selbst dort, wo Sie einen chilenischen oder kalifornischen Einschlag vermuten.

Ab und zu habe ich die zweifelhafte Ehre, vor BWL-Studenten zu sprechen. Wenn ich die jungen Leute nach ihren Karrierezielen frage, antworten die meisten, dass sie sich mittelfristig im Vorstand einer globalen Firma sehen. Das war zu meiner Zeit und selbst bei mir nicht anders. Daraus wurde dann glücklicherweise nichts. Ich sehe meine Aufgabe darin, den Studenten einen Base-Rate-Crashkurs zu geben: »Die Wahrscheinlichkeit, mit einem Diplom dieser Schule im Vorstand eines Konzerns zu landen, ist niedriger als 1 %. Egal wie intelligent und strebsam Sie sind, das wahrscheinlichste Szenario ist, dass Sie im Mittelmanagement stecken bleiben.« Dabei ernte ich aufgerissene Augen und bilde mir ein, einen Beitrag zur Abfederung zukünftiger Midlife-Krisen geleistet zu haben.

DER SPIELERFEHLSCHLUSS

Warum es keine ausgleichende Kraft des Schicksals gibt

Im Sommer 1913 geschah in Monte Carlo etwas Unglaubliches. Um den Roulettetisch des Kasinos drängten sich die Menschen, denn sie trauten ihren Augen nicht. Die Kugel war bereits 20-mal nacheinander auf Schwarz gefallen. Viele Spieler nutzten die Gunst der Stunde und wetteten auf Rot. Doch wieder kam Schwarz. Noch mehr Leute strömten hinzu und setzten ihr Geld auf Rot. Jetzt musste es einfach mal einen Wechsel geben! Doch wieder kam Schwarz. Und wieder und wieder. Erst beim 27. Mal fiel die Kugel endlich auf Rot. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Spieler ihre Millionen bereits verwettet. Sie waren bankrott.

Der durchschnittliche Intelligenzquotient der Schüler einer Großstadt beträgt 100. Für eine Studie ziehen Sie eine zufällige Stichprobe von 50 Schülern. Das erste Kind, das Sie testen, hat einen IQ von 150. Wie hoch wird der durchschnittliche IQ Ihrer 50 Schüler sein? Die meisten Menschen, denen ich diese Frage stelle, tippen auf 100. Irgendwie, denken sie, müsste der superschlaue Schüler, den sie zuerst getestet haben, durch einen superdummen Schüler mit einem IQ von 50 (oder durch zwei Schüler mit einem IQ von 75) ausbalanciert werden. Doch bei einer so kleinen Stichprobe ist das sehr unwahrscheinlich. Man muss damit rechnen, dass die restlichen 49 Schüler dem Durchschnitt der Population entsprechen, dass sie also einen IQ von 100 haben. 49 mal ein IQ von 100 und ein mal ein IQ von 150 ergibt in der Stichprobe einen durchschnittlichen IQ von 101.

Die Beispiele von Monte Carlo und der Schülerstichprobe zeigen: Menschen glauben an eine ausgleichende Kraft des Schicksals. Hier spricht man von Spielerfehlschluss (auf Englisch: Gambler’s Fallacy). Aber bei unabhängigen Ereignissen gibt es keine ausgleichende Kraft. Eine Kugel kann sich nicht daran erinnern, wie oft sie schon auf Schwarz liegen geblieben ist. Ein Freund führt aufwendige Tabellen mit allen gezogenen Lotto-Zahlen. Er füllt den Lottoschein stets so aus, dass er die am seltensten gezogenen Zahlen ankreuzt. Doch die ganze Arbeit ist für die Katz – Spielerfehlschluss.

Folgender Witz illustriert den Spielerfehlschluss: Ein Mathematiker nimmt auf jedem Flug eine Bombe mit ins Handgepäck. »Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Bombe im Flugzeug ist, ist sehr gering«, sagt er, »und die Wahrscheinlichkeit für zwei Bomben liegt nahezu bei null!«

Eine Münze wird dreimal geworfen, und dreimal landet sie auf Kopf. Angenommen, jemand zwingt Sie, 1.000 Euro Ihres eigenen Geldes für den nächsten Wurf auszugeben. Würden Sie auf Kopf oder Zahl setzen? Wenn Sie so ticken wie die meisten Menschen, werden Sie auf Zahl setzen, obwohl Kopf ebenso wahrscheinlich ist – der bekannte Spielerfehlschluss.

Eine Münze wird 50-mal geworfen, und 50-mal landet sie auf Kopf. Wieder zwingt Sie jemand, 1.000 Euro zu setzen. Kopf oder Zahl für den nächsten Wurf? Smart, wie Sie sind, lächeln Sie, denn Sie haben das Kapitel bis hierher gelesen und wissen, dass es nicht darauf ankommt. Doch das ist die klassische Déformation professionnelle des Berufsmathematikers. Hätten Sie gesunden Menschenverstand, würden Sie eindeutig auf Kopf setzen, weil Sie schlichtweg annehmen müssen, dass die Münze gezinkt ist.