Nicht nur andere lassen sich so betrügen, wir betrügen uns auch selbst. Menschen, die selten krank sind, halten sich für unsterblich. Ein CEO, der viele Quartale nacheinander eine Gewinnsteigerung bekannt geben darf, hält sich für unfehlbar – und seine Mitarbeiter und Aktionäre ihn auch.
Ich hatte einen Freund, er war Base Jumper. Er sprang von Felsen, Sendemasten und Gebäuden, wobei er erst im letzten Moment die Reißleine des Fallschirms zog. Als ich ihn einmal auf das Risiko seines Sports ansprach, antwortete er: »Ich habe schon über 1.000 Sprünge hinter mir. Noch nie ist etwas passiert.« Zwei Monate nach unserer Konversation war er tot. Er starb, als er in Südafrika von einem besonders gefährlichen Felsen sprang. Eine einzige gegenteilige Beobachtung genügt, um eine tausendmal bestätigte Theorie vom Tisch zu fegen.
Induktives Denken kann also verheerende Folgen haben – und doch geht es nicht ohne. Wir bauen darauf, dass die aerodynamischen Gesetze auch morgen funktionieren, wenn wir den Flieger besteigen. Wir rechnen damit, dass wir auf der Straße nicht grundlos niedergeprügelt werden. Wir rechnen damit, dass unser Herz auch morgen schlagen wird. Das sind Gewissheiten, ohne die wir nicht leben könnten. Wir brauchen die Induktion, aber wir dürfen nie vergessen, dass sämtliche Gewissheiten immer nur vorläufig sind. Wie sagte Benjamin Franklin? »Nichts ist sicher, außer der Tod und die Steuern.«
Induktion kann verführerisch sein: »Die Menschheit hat es noch immer geschafft, also werden wir auch die zukünftigen Herausforderungen meistern.« Klingt gut, aber was wir nicht bedenken: Diese Aussage kann nur eine Spezies machen, die bis jetzt überlebt hat. Die Tatsache, dass es uns gibt, als Hinweis zu nehmen, dass es uns auch in Zukunft geben wird, ist ein gravierender Denkfehler. Vermutlich der gravierendste.
Warum uns böse Gesichter schneller auffallen als freundliche
Überlegen Sie sich, wie gut Sie sich heute fühlen – auf einer Skala von 1 bis 10. Dazu zwei Fragen: Erstens, was würde Ihre Glückseligkeit auf Stufe 10 hochdrehen? Vielleicht die Ferienwohnung an der Côte d’Azur, von der Sie schon lange träumen? Ein Schritt auf der Karriereleiter? Zweitens, was könnte eintreten, das Ihre Glückseligkeit im mindestens gleichen Ausmaß vermindern würde – Querschnittslähmung, Alzheimer, Krebs, Depression, Krieg, Hunger, Folter, finanzieller Ruin, Schädigung Ihres guten Rufes, Verlust Ihres besten Freundes, Entführung Ihrer Kinder, Blindheit, Tod? Sie stellen fest: Die »Downside« ist größer als die »Upside«, es gibt mehr Schlechtes als Gutes. Das war in unserer evolutionären Vergangenheit noch viel ausgeprägter der Fall. Ein dummer Fehler, und man war tot. Alles Mögliche führte zum schnellen Ausscheiden aus dem »Spiel des Lebens« – Unachtsamkeit auf der Jagd, eine entzündete Sehne, der Ausschluss aus der Gruppe. Menschen, die unachtsam waren oder große Risiken eingingen, starben, bevor sie ihre Gene an die nächste Generation weitergeben konnten. Jene, die übrig blieben, die Vorsichtigen, haben überlebt. Wir sind deren Nachkommen.
Kein Wunder, werten wir Verluste stärker, als wir Gewinne schätzen. Wenn Sie 100 Euro verlieren, kostet Sie das ein größeres Quantum Glückseligkeit, als Sie gewinnen, wenn ich Ihnen 100 Euro schenke. Empirisch erwiesen: Ein Verlust wiegt emotional etwa doppelt so schwer wie ein Gewinn der gleichen Größe. Die Wissenschaft nennt das Verlustaversion.
Wenn Sie jemanden überzeugen wollen, argumentieren Sie deshalb nicht mit einem möglichen Gewinn, sondern mit dem Vermeiden eines möglichen Verlustes. Hier das Beispiel einer Kampagne zur Früherkennung von Brustkrebs bei Frauen. Zwei verschiedene Flugblätter wurden verschickt. Flugblatt A argumentierte: »Lassen Sie sich jährlich auf Brustkrebs untersuchen. Damit kann ein möglicher Krebs frühzeitig entdeckt und entfernt werden.« Flugblatt B: »Wenn Sie sich nicht jährlich auf Brustkrebs untersuchen lassen, riskieren Sie, dass ein möglicher Krebs nicht früh genug entdeckt und entfernt werden kann.« Auf jedem Flugblatt stand eine Telefonnummer für zusätzliche Informationen. Die Auswertung zeigte: Leserinnen des Flugblatts B riefen viel öfter an.
Die Angst, etwas zu verlieren, motiviert Menschen stärker als der Gedanke, etwas von gleichem Wert zu gewinnen. Angenommen, Sie stellen Isolationsmaterial für Immobilien her. Dann sind Ihre Kunden eher bereit, ihr Haus zu isolieren, wenn Sie ihnen sagen, wie viel Geld sie mit mangelnder Isolation verlieren könnten – als wie viel Geld sie mit guter Isolation sparen könnten. Auch wenn der Betrag natürlich genau derselbe ist.
Dasselbe Spiel an der Börse: Investoren haben die Tendenz, Verluste nicht zu realisieren, sondern lieber noch zuzuwarten und zu hoffen, dass sich ihre Aktie wieder erholt. Ein nicht realisierter Verlust ist eben noch kein Verlust. Also verkaufen sie nicht, selbst wenn die Aussicht auf eine Erholung klein und die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Kursrückgangs groß ist. Ich habe mal einen Mann kennengelernt, einen Multimillionär, der sich gerade fürchterlich aufregte, weil er einen 100-Euro-Schein verloren hatte. Welche Verschwendung von Emotionen! Ich lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass der Wert seines Portfolios in jeder Sekunde um mindestens 100 Euro schwankte.
Mitarbeiter (falls sie allein verantwortlich sind und nicht in Gruppen entscheiden) sind tendenziell risikoscheu. Aus ihrer Warte macht das Sinn: Warum etwas wagen, das ihnen bestenfalls einen schönen Bonus beschert, im anderen Fall jedoch die Stelle kostet? In fast allen Firmen und fast allen Fällen übersteigt das Karriererisiko den möglichen Gewinn. Wenn Sie sich als Vorgesetzter also über die mangelnde Risikobereitschaft Ihrer Mitarbeiter beklagen, wissen Sie jetzt, warum. Wegen der Verlustaversion.
Wir können es nicht ändern: Böse ist stärker als Gut. Wir reagieren sensibler auf negative Dinge als auf positive. Ein unfreundliches Gesicht fällt uns auf der Straße schneller auf als ein freundliches. Schlechtes Verhalten bleibt uns länger in Erinnerung als gutes. Mit einer Ausnahme natürlich: Wenn es um uns selbst geht.
Warum Teams faul sind
Maximilian Ringelmann, ein französischer Ingenieur, untersuchte 1913 die Leistung von Pferden. Er fand heraus: Die Leistung zweier Zugtiere, die gemeinsam einer Kutsche vorgespannt werden, ist nicht doppelt so hoch wie die Leistung eines einzelnen Pferds. Überrascht von diesem Resultat, dehnte er seine Untersuchung auf Menschen aus. Er ließ mehrere Männer an einem Tau ziehen und maß die Kraft, die jeder einzelne entfaltete. Im Durchschnitt investierten Personen, die zu zweit an einem Tau zogen, nur je 93 % der Kraft eines einzelnen Tauziehers; wenn sie zu dritt zogen, waren es 85 %, bei acht Personen nur noch 49 %.
Außer Psychologen überrascht dieses Ergebnis niemanden. Die Wissenschaft nennt den Effekt Social Loafing (auf Deutsch etwa: soziales Faulenzen). Er tritt auf, wo die Leistung des Einzelnen nicht direkt sichtbar ist, sondern mit der Gruppe verschmilzt. Es gibt Social Loafing bei Ruderern, nicht aber bei Stafettenläufern, weil hier die einzelnen Beiträge offenkundig sind. Social Loafing ist ein rationales Verhalten: Warum die volle Kraft investieren, wenn es auch mit der halben geht, ohne dass es auffällt? Kurzum, Social Loafing ist eine Form von Betrug, der wir uns alle schuldig machen. Meistens nicht mal absichtlich. Der Betrug läuft unbewusst ab – wie bei den Pferden.