Fazit: Der Halo Effect versperrt uns die Sicht auf die wahren Eigenheiten. Schauen Sie darum genauer hin. Klammern Sie das herausstechende Merkmal aus. Weltklasseorchester tun dies, indem sie Kandidaten hinter einer Leinwand spielen lassen. Damit vermeiden sie, dass Geschlecht, Rasse oder Aussehen ihre Bewertung beeinflussen. Wirtschaftsjournalisten lege ich ans Herz, eine Firma nicht anhand der Quartalszahlen zu bewerten (das erledigt ja schon die Börse), sondern tiefer zu bohren. Was dabei zutage gefördert wird, ist nicht immer schön. Aber bisweilen lehrreich.
Gratulation! Sie haben im Russisch Roulette gewonnen
Sie verabreden sich mit einem russischen Oligarchen etwas außerhalb Ihrer Stadt in einem Wald. Der Oligarch hat dabei: einen Koffer und einen Revolver. Der Koffer ist bis zum Rand mit Euro gefüllt – insgesamt zehn Millionen in sauber abgezählten Scheinen. In der Trommel des Revolvers liegt eine einzige Patrone, die anderen fünf Kammern sind leer. »Lust auf Russisch Roulette?«, fragt der Oligarch. »Sie drücken einmal ab, und der Koffer samt Inhalt gehört Ihnen.« Sie überlegen. Zehn Millionen hätten einen profunden Einfluss auf Ihr Leben: Nie mehr arbeiten! Endlich könnten Sie dazu übergehen, Sportautos statt Briefmarken zu sammeln.
Angenommen, Sie nehmen die Herausforderung an, legen die Mündung des Revolvers an Ihre Schläfe und drücken ab. Sie hören ein leises »Klick« und spüren, wie Adrenalin durch Ihren Körper flutet. Kein Schuss ging los. Sie haben überlebt. Sie nehmen das Geld, bauen sich eine übergroße Villa im schönsten Stadtteil Frankfurts und ärgern damit die Nachbarn.
Einer dieser Nachbarn, dessen Haus nun im Schatten Ihrer Villa steht, ist ein prominenter Anwalt. Er arbeitet zwölf Stunden am Tag, 300 Tage im Jahr. Sein Stundensatz ist stolz, aber nicht unüblich: 600 Euro. Kurzum, er kann eine halbe Million netto pro Jahr zur Seite legen. Ab und zu grüßen Sie ihn von Ihrem Grundstück aus und lächeln, während Sie winken: Er wird 20 Jahre lang arbeiten müssen, um mit Ihnen gleichzuziehen.
Angenommen, nach 20 Jahren hat sich Ihr fleißiger Nachbar tatsächlich zehn Millionen erarbeitet. Seine Villa kann sich neben Ihrer sehen lassen. Ein Journalist kommt vorbei und macht eine Reportage über die »wohlhabenderen« Bewohner der Siedlung – mitsamt Fotos der Prunkbauten und der jungen Frauen, die Sie und Ihr Nachbar sich neben den Villen ebenfalls erworben haben. Er kommentiert die Innenarchitektur und die Finessen der Gartengestaltung. Der entscheidende Unterschied zwischen Ihnen beiden bleibt ihm allerdings verborgen: das Risiko, das hinter jeder der zehn Millionen steckt. Dazu müsste er die alternativen Pfade erkennen – und darin sind nicht nur Journalisten, sondern wir alle schlecht.
Was sind alternative Pfade? Alles, was ebenfalls hätte eintreffen können, aber nicht eingetroffen ist. Beim Russisch Roulette hätten vier alternative Pfade zum gleichen Ergebnis geführt (zehn Millionen Euro Gewinn) und ein fünfter zu Ihrem Tod – ein riesiger Unterschied. Im Fall des Rechtsanwalts liegen die möglichen Pfade viel näher beisammen. Auf einem Dorf hätte er vielleicht nur 200 Euro die Stunde verdient. Im Herzen von Hamburg und im Auftrag von Großbanken vielleicht 800. Aber es gibt, anders als bei Ihnen, keinen alternativen Pfad, der den Anwalt um sein Vermögen oder gar ums Leben gebracht hätte.
Alternative Pfade sind unsichtbar, darum denken wir so selten daran. Wer mit Junkbonds, Optionen und Credit Default Swaps spekuliert und damit Millionen verdient, sollte nie vergessen, dass er gleichzeitig ein Bündel von gefährlichen alternativen Pfaden mitschleppt, die geradewegs in den Ruin führen. Zehn Millionen, die unter einem so großen Risiko entstanden sind, sind weniger wert als zehn Millionen, die durch jahrelanges Schuften zusammengekommen sind. Da kann ein Buchhalter noch so oft behaupten, zehn Millionen seien zehn Millionen.
Bei einem unserer Abendessen schlug Nassim Taleb vor, eine Münze zu werfen, um zu entscheiden, wer die Rechnung bezahlen soll. Es traf ihn. Die Situation war mir unangenehm, denn er war zu Besuch in der Schweiz. Ich sagte: »Das nächste Mal werde ich bezahlen, egal ob hier oder in New York.« Er überlegte eine Weile und sagte: »Unter Berücksichtigung der alternativen Pfade hast du eigentlich schon die Hälfte dieses Dinners bezahlt.«
Fazit: Risiko ist nie direkt sichtbar. Überlegen Sie sich daher immer, wie Ihre alternativen Pfade aussehen. Nehmen Sie Erfolge, die über riskante alternative Pfade zustande gekommen sind, weniger ernst als Erfolge, die Sie auf »langweiligen« Pfaden (zum Beispiel mit einer mühseligen Tätigkeit als Anwalt, Zahnarzt, Skilehrer, Pilot oder Unternehmensberater) erreicht haben. Wie sagte doch Montaigne: »Mein Leben war voller Unglücke – von denen die meisten nicht eingetroffen sind.«
Wie die Kristallkugel Ihren Blick verzerrt
»Regimewechsel in Nordkorea in den nächsten zwei Jahren.« »Argentinische Weine bald beliebter als französische.« »Facebook in drei Jahren wichtigstes Unterhaltungsmedium.« »Der Euro wird auseinanderbrechen.« »Weltraumspaziergänge für jedermann in zehn Jahren.« »Kein Rohöl mehr in 15 Jahren.«
Täglich bombardieren uns Experten mit ihren Prognosen. Wie verlässlich sind sie? Bis vor wenigen Jahren hat sich niemand die Mühe gemacht, ihre Qualität zu überprüfen. Dann kam Philip Tetlock.
Der Berkeley-Professor wertete 82.361 Vorhersagen von insgesamt 284 Experten über einen Zeitraum von zehn Jahren aus. Das Resultat: Die Prognosen trafen kaum häufiger zu, als wenn man einen Zufallsgenerator befragt hätte. Als besonders schlechte Prognostiker erwiesen sich ausgerechnet die Experten mit der stärksten Medienaufmerksamkeit, insbesondere die Untergangspropheten, und unter ihnen wiederum die Vertreter von Desintegrationsszenarien – auf das Auseinanderbrechen von Kanada, Nigeria, China, Indien, Indonesien, Südafrika, Belgien und der EU warten wir noch immer (an Libyen hat bezeichnenderweise kein Experte gedacht).
»Es gibt zwei Arten von Leuten, die die Zukunft vorhersagen: jene, die nichts wissen, und jene, die nicht wissen, dass sie nichts wissen«, schrieb der Harvard-Ökonom John Kenneth Galbraith und machte sich damit in seiner eigenen Zunft verhasst. Noch süffisanter drückte sich der Fondsmanager Peter Lynch aus: »Die USA haben 60.000 ausgebildete Ökonomen. Viele von ihnen sind angestellt, um Wirtschaftskrisen und Zinsen vorherzusagen. Wenn ihre Prognosen nur zweimal hintereinander eintreffen würden, wären sie Millionäre. Soweit ich weiß, sind die meisten noch immer brave Angestellte.« Das war vor zehn Jahren. Heute dürften die USA die dreifache Anzahl Ökonomen beschäftigen – mit einem Effekt von null auf die Prognosequalität.
Das Problem: Experten bezahlen für falsche Prognosen keinen Preis – weder in Geld noch über den Verlust des guten Rufes. Anders ausgedrückt: Als Gesellschaft geben wir diesen Leuten eine Gratisoption. Es gibt keine »Downside« beim Verfehlen der Prognose, aber eine »Upside« an Aufmerksamkeit, Beratungsmandaten und Pu-blikationsmöglichkeiten, falls die Prognose stimmt. Weil der Preis für diese Option null ist, erleben wir eine wahre Inflation an Vorhersagen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass immer mehr Vorhersagen rein zufällig richtigliegen. Idealerweise würde man Prognostiker zwingen, Geld in einen »Prognose-Fonds« einzubezahlen – sagen wir 1.000 Euro pro Vorhersage. Stimmt die Prognose, erhält der Experte sein Geld verzinst zurück. Stimmt sie nicht, geht der Betrag an eine wohltätige Stiftung.