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Angenommen, Sie sind der Chef der Medikamentenzulassungsbehörde Ihres Landes. Sie stehen vor der Entscheidung, ob ein Medikament für Todkranke zugelassen werden soll. Das Medikament hat starke Nebeneffekte. Es tötet 20 % der Patienten auf der Stelle, rettet aber das Leben von 80 % in kurzer Frist. Wie entscheiden Sie?

Wenn Sie so ticken wie die meisten, verbieten Sie die Zulassung. Ein Medikament, das jeden Fünften auf der Stelle hinrafft, empfinden Sie als schlimmer als die Tatsache, dass 80 % der Patienten, die hätten gerettet werden können, nun eben nicht gerettet werden. Eine absurde Entscheidung, aber im Einklang mit dem Omission Bias. Angenommen, Sie sind sich des Omission Bias bewusst und entschließen sich im Namen der Vernunft und der Moral dazu, das Medikament doch zuzulassen. Was passiert, wenn, wie vorausgesehen, der erste Patient daran stirbt? Ein Aufschrei geht durch die Presse, und Sie sind Ihren Job los. Als Beamter oder Politiker tun sie gut daran, den Omission Bias im Volk ernst zu nehmen – und selbst zu pflegen.

Wie fix diese »moralische Verzerrung« in unseren Köpfen festsitzt, zeigt die Rechtsprechung. Aktive Sterbehilfe, auch wenn sie dem ausdrücklichen Wunsch des Sterbenden entspricht, ist in Deutschland und in der Schweiz strafbar, während der vorsätzliche Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen straflos bleibt.

Der Omission Bias erklärt, warum Eltern manchmal zögern, ihre Kinder impfen zu lassen, obwohl die Impfung das Krankheitsrisiko nachweislich senkt. Objektiv betrachtet müsste man diese Eltern der aktiven Schädigung der Kinder bezichtigen, falls die Kinder dann tatsächlich erkranken. Aber eben: Vorsätzliche Unterlassung empfinden wir als weniger schlimm als eine verwerfliche, aktive Handlung.

Der Omission Bias erklärt, warum wir viel lieber jemanden ins Messer laufen lassen, als ihm direkt Schaden zuzufügen. Keine neuen Produkte zu entwickeln, empfinden Investoren und Wirtschaftsjournalisten als weniger schlimm, als falsche Produkte zu entwickeln, auch wenn beides zum Bankrott der Firma führt. Auf einem Bündel miserabler Aktien sitzen zu bleiben, die wir vor Jahren geerbt haben, empfinden wir als weniger schlimm, als die falschen Aktien gekauft zu haben. Keine Abgaswaschanlage in einem Kohlekraftwerk einzubauen, ist weniger schlimm, als die Abgaswaschanlage aus Kostengründen zu entfernen. Das eigene Haus nicht zu isolieren, ist weniger schlimm, als das Heizöl, das damit hätte eingespart werden können, als offenes Feuer zur eigenen Belustigung zu verbrennen. Einkommen einfach nicht zu deklarieren, ist weniger schlimm, als Steuerdokumente zu fälschen – obwohl das Resultat dasselbe ist.

Im vorherigen Kapitel haben wir den Action Bias kennengelernt. Ist er das Gegenteil zum Omission Bias? Nicht ganz. Der Action Bias kommt ins Spiel, wenn eine Situation unklar, widersprüchlich, opak ist. Dann tendieren wir zu Umtriebigkeit, auch wenn es keinen vernünftigen Grund dafür gibt. Beim Omission Bias ist die Situation meistens übersichtlich: Ein zukünftiger Schaden könnte durch heutiges Handeln abgewendet werden, aber das Abwenden eines Schadens motiviert uns nicht so stark, wie es die Vernunft geböte.

Der Omission Bias ist sehr schwer zu erkennen – Verzicht auf Handlung ist weniger sichtbar als Handlung. Die 68er-Bewegung, das muss man ihr lassen, hat ihn durchschaut und mit einem prägnanten Slogan bekämpft: »Wenn du nicht Teil der Lösung bist, bist du Teil des Problems.«

THE SELF-SERVING BIAS

Warum Sie nie selber schuld sind

Lesen Sie Geschäftsberichte – insbesondere die Kommentare der CEOs? Nein? Schade, denn dort blühen Beispiele eines Irrtums, dem wir alle in der einen oder anderen Form verfallen sind. Der Denkfehler geht so: Hat die Firma ein ausgezeichnetes Jahr hinter sich, begründet es der CEO mit glänzenden Entscheidungen, seinem unermüdlichen Einsatz und der dynamischen Unternehmenskultur, die er in Schwung hält. Hat die Firma hingegen ein schlechtes Jahr hinter sich, so ist der starke Euro schuld, die Bundesregierung, die hinterlistigen Handelspraktiken der Chinesen, die versteckten Zölle der Amerikaner, überhaupt die verhaltene Konsumentenstimmung. Erfolge schreibt man sich selbst zu, Misserfolge externen Faktoren. Das ist der Self-Serving Bias (auf Deutsch etwa: selbstwertdienliche Beurteilung).

Auch wenn Sie den Ausdruck noch nicht kannten – Sie kennen den Self-Serving Bias von der Schule her. Für den Einser waren Sie verantwortlich; das Glanzresultat widerspiegelte Ihre wahren Kenntnisse und Fähigkeiten. Und wenn Sie einen Fünfer hatten, einen Reinfall? Dann war die Prüfung unfair. Heute kümmern Sie sich nicht mehr um Schulnoten, aber vielleicht um Börsenkurse. Haben Sie einen Gewinn eingefahren, glorifizieren Sie sich selbst. Bei einem Verlust geben Sie der »Börsenstimmung« (was auch immer das ist) die Schuld oder Ihrem Anlageberater. Auch ich mache vom Self-Serving Bias ausgiebig Gebrauch: Erklimmt mein neuer Roman die Bestsellerliste, klopfe ich mir auf die Schulter: Klar, mein bislang bestes Buch! Geht der Roman in der Flut der Neuheiten unter, erscheint mir das ebenso logisch: Die Kritiker sind neidisch und schreiben Verrisse, und die Leser begreifen nicht, was gute Literatur ist.

Absolventen eines Persönlichkeitstests wurden nach dem Zufallsprinzip gute oder schlechte Noten zugeteilt. Jene, die eine gute Note erhielten, fanden den Test stichhaltig und allgemeingültig. Wer zufällig eine schlechte Note bekam, fand den Test überhaupt nicht aussagekräftig. Warum diese Verzerrung? Warum interpretieren wir Erfolge als eigene Leistung und schreiben Misserfolge anderen zu? Es gibt viele Theorien. Die einfachste Erklärung ist wohclass="underline" Weil es sich gut anfühlt. Und weil der Schaden, den wir uns damit anrichten, sich normalerweise in Grenzen hält. Wäre das nicht der Fall, hätte die Evolution diesen Denkfehler im Verlauf der letzten 100.000 Jahre ausradiert. Aber Vorsicht. In einer modernen Welt mit unübersichtlichen Risiken kann der Self-Serving Bias schnell in die Katastrophe führen. Ein gutes Beispiel ist Richard Fuld, der sich selbst gerne als »Master of the Universe« bezeichnete. Bis 2008 zumindest – Fuld war CEO von Lehman Brothers.

In den USA gibt es einen standardisierten Test, den sogenannten SAT, den alle Schüler durchlaufen, die sich um einen Studienplatz bewerben. Das Resultat liegt jeweils zwischen 200 und 800 Punkten. Wenn die Studenten ein Jahr nach der Prüfung nach ihrem SAT-Resultat gefragt werden, geben sie ihr Prüfungsergebnis im Durchschnitt um 50 Punkte zu hoch an. Interessant: Sie lügen nicht dreist, sie übertreiben nicht maßlos, sondern »frisieren« das Resultat nur ein bisschen – bis sie selber daran glauben.

Im Haus, in dem ich wohne, gibt es eine WG, die sich fünf Studenten teilen. Den einen oder anderen treffe ich manchmal im Fahrstuhl. Ich fragte jeden von den Jungs separat, wie oft er den WG-Müll hinaustrage. Einer sagte: »Jedes zweite Mal.« Ein anderer: »Jedes dritte Mal.« Ein anderer, fluchend, denn ich traf ihn grad mit einem geplatzten Müllsack an: »Sozusagen immer, zu 90 %.« Obwohl alle Antworten zusammen 100 % ergeben sollten, addierten sie sich zu 320 %! Die WG-Bewohner überschätzten systematisch ihre Rolle – und sind darin nicht anders als wir alle. In einer Ehe spielt derselbe Mechanismus: Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass sowohl Männer als auch Frauen ihren Beitrag zum Funktionieren der Partnerschaft mit über 50 % bewerten.

Wie dem Self-Serving Bias entgegentreten? Haben Sie Freunde, die Ihnen ungeschminkt die Wahrheit sagen? Wenn ja, können Sie sich glücklich schätzen. Wenn nicht, haben Sie wenigstens einen persönlichen Feind? Gut. Dann springen Sie über Ihren Schatten und laden Sie ihn zum Kaffee ein. Bitten Sie ihn, seine Meinung zu Ihrer Person unverhohlen auszubreiten. Sie werden ihm ewig dankbar sein.