Anfängerglück gibt es auch in der Weltgeschichte. Ich bezweifle, ob Napoleon oder Hitler einen Russlandfeldzug gewagt hätten – ohne die vorherigen Siege.
Ab welchem Moment ist es nicht mehr Anfängerglück, sondern Talent? Es gibt keine klare Grenze, aber zwei gute Hinweise. Erstens: Wenn Sie über eine lange Zeit deutlich besser sind als die anderen, können Sie davon ausgehen, dass Talent zumindest eine Rolle spielt. Sicher sein können Sie jedoch nie. Zweitens: Je mehr Menschen mitspielen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand aus purem Glück über lange Zeit Erfolg hat. Vielleicht sind Sie dieser Jemand. Falls Sie sich in einem Markt mit nur zehn Mitbewerbern als Leader etablieren, ist das ein gewisser Hinweis für Talent. Weniger stolz sollte Sie ein Erfolg in einem Markt mit zehn Millionen Mitbewerbern machen (zum Beispiel im Finanzmarkt). Gehen Sie in diesem Fall davon aus, dass Sie einfach sehr viel Glück hatten.
So oder so: Warten Sie mit Ihrem Urteil zu. Anfängerglück kann verheerend sein. Um sich gegen Selbsttäuschungen zu wappnen, gehen Sie wie ein Wissenschaftler vor: Testen Sie Ihre Annahmen. Versuchen Sie, sie zu falsifizieren. Als ich meinen ersten Roman – Fünfunddreißig – fertig in der Schublade hatte, schickte ich ihn an einen einzigen Verlag: Diogenes. Prompt wurde er angenommen. Einen Moment lang fühlte ich mich als Genie, als literarische Sensation. (Die Chance, dass ein unaufgefordertes Manuskript bei Diogenes verlegt wird, liegt bei eins zu 15.000). Nachdem ich den Verlagsvertrag unterzeichnet hatte, schickte ich das Manuskript – zum Test – an zehn andere große Belletristikverlage. Von allen zehn erhielt ich Absagen. Meine »Genie-Theorie« wurde falsifiziert – was mich wieder auf den Boden geholt hat.
Wie Sie mit kleinen Lügen Ihre Gefühle in Ordnung bringen
Ein Fuchs schlich sich an einen Weinstock heran. Sein Blick hing sehnsüchtig an den dicken, blauen, überreifen Trauben. Er stützte sich mit seinen Vorderpfoten gegen den Stamm, reckte seinen Hals empor und wollte ein paar Trauben erwischen, aber sie hingen zu hoch. Verärgert versuchte er sein Glück noch einmal. Diesmal tat er einen gewaltigen Satz, doch er schnappte nur ins Leere. Ein drittes Mal sprang er aus Leibeskräften – so hoch, dass er auf den Rücken fiel. Nicht ein Blatt hatte sich bewegt. Der Fuchs rümpfte die Nase: »Sie sind mir noch nicht reif genug, ich mag keine sauren Trauben.« Mit erhobenem Haupt stolzierte er in den Wald zurück. Die Fabel des griechischen Dichters Äsop illustriert einen der häufigsten Denkfehler. Was sich der Fuchs nämlich vorgenommen hat und was dabei herausgekommen ist, passen nicht zusammen. Diesen ärgerlichen Widerspruch (Dissonanz) kann der Fuchs auf drei Arten entschärfen: A) indem er sich die Trauben auf irgendeine Art doch noch holt, B) indem er sich eingesteht, dass seine Fähigkeiten dazu nicht ausreichen, C) indem er nachträglich etwas uminterpretiert. Im letzteren Fall spricht man von kognitiver Dissonanz beziehungsweise von deren Auflösung.
Ein einfaches Beispieclass="underline" Sie haben einen neuen Pkw gekauft. Schon bald bereuen Sie Ihre Wahclass="underline" Der Motor ist laut, die Sitze unbequem. Was tun? Sie geben den Wagen nicht zurück – nein, das wäre ja ein Eingeständnis, einen Fehler gemacht zu haben, und wahrscheinlich würde der Händler ihn ohne Abschlag ohnehin nicht mehr wollen. Also reden Sie sich ein, dass ein lauter Motor und unbequeme Sitze immerhin vorzüglich geeignet sind, Sie vor dem Einschlafen am Steuer zu hindern – dass Sie also einen besonders sicheren Wagen gekauft haben. Gar nicht so dumm, denken Sie, und sind mit Ihrer Wahl doch wieder zufrieden.
Leon Festinger und Merrill Carlsmith von der Stanford University wiesen ihre Studenten an, eine Stunde lang eine todlangweilige Arbeit auszuüben. Danach teilten sie die Probanden nach Zufall in zwei Gruppen. Jedem Studenten der Gruppe A drückten Sie einen Dollar (das war im Jahr 1959) in die Hand und wiesen ihn an, einem draußen wartenden Kommilitonen von der eigentlich mühseligen Arbeit vorzuschwärmen, also zu lügen. Dasselbe mit den Studenten der Gruppe B, mit dem einzigen Unterschied: Sie erhielten 20 Dollar für die kleine Lügerei. Später mussten die Studenten angeben, wie angenehm sie die Arbeit denn wirklich empfunden hatten. Interessant: Wer nur einen Dollar erhalten hatte, bewertete die Arbeit als bedeutend angenehmer und interessanter als jene, die mit 20 Dollar belohnt worden waren. Warum? Für einen läppischen Dollar zu lügen machte keinen Sinn, also konnte die Arbeit wirklich nicht so schlimm gewesen sein. Diejenigen, die 20 Dollar erhielten, mussten nichts uminterpretieren. Sie hatten gelogen und dafür 20 Dollar kassiert – ein fairer Deal. Sie verspürten keine kognitive Dissonanz.
Angenommen, Sie haben sich um eine Stelle beworben, aber man hat Ihnen einen anderen Kandidaten vorgezogen. Statt sich einzugestehen, dass Sie nicht genügend qualifiziert sind, reden Sie sich ein, dass Sie im Grunde die Stelle gar nie haben wollten. Sie wollten nur wieder mal Ihren »Marktwert« testen, schauen, ob man Sie überhaupt noch zu Bewerbungsgesprächen einlädt.
Ganz ähnlich reagierte ich, als ich vor einiger Zeit zwischen zwei Aktien zu wählen hatte. Diejenige, die ich kaufte, verlor kurz danach deutlich an Wert, während die andere kräftig zulegte. Zu dumm, aber ich konnte mir den Fehler nicht eingestehen. Im Gegenteil, ich erinnere mich genau, dass ich einem Freund allen Ernstes weiszumachen versuchte, die Aktie schwächle zwar gerade etwas, aber sie habe »mehr Potenzial« als die andere. Eine hochgradig unvernünftige Selbsttäuschung, die nur mit kognitiver Dissonanz zu erklären ist. Das »Potenzial« nämlich wäre noch größer geworden, wenn ich mit dem Kauf zugewartet und mir die Zeit bis dahin mit der anderen, gut performenden Aktie vertrieben hätte. Es war mein Freund, der mir die Äsop-Fabel erzählte. »Du kannst noch so sehr den schlauen Fuchs spielen – die Trauben hast du damit nicht gefressen.«
Carpe Diem – aber bitte nur am Sonntag
Sie kennen den Satz: »Genieß jeden Tag, als wäre es dein letzter.« Er findet sich mindestens dreimal in jeder Lifestyle-Zeitschrift, und er gehört zum Standardrepertoire jedes Lebenshilferatgebers. Schlauer macht ihn das nicht. Stellen Sie sich vor, Sie würden ab heute nicht mehr die Zähne putzen, sich die Haare nicht mehr waschen, die Wohnung nicht mehr reinigen, die Arbeit liegen lassen, keine Rechnungen mehr bezahlen – Sie wären in Kürze arm, krank und vielleicht sogar im Gefängnis. Und doch drückt der Satz eine tiefe Sehnsucht aus, die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit. Von allen lateinischen Mottos, die bis heute überlebt haben, ist »carpe diem« wohl das beliebteste: Genieße den Tag, in vollen Zügen, und kümmere dich nicht um morgen. Unmittelbarkeit ist uns sehr viel wert. Wie viel? Mehr, als rational begründbar ist.
Möchten Sie lieber 1.000 Euro in einem Jahr erhalten oder 1.100 Euro in einem Jahr und einem Monat? Wenn Sie so ticken wie die meisten Menschen, dann entscheiden Sie sich für die 1.100 Euro in 13 Monaten. Das macht Sinn, denn eine Verzinsung von 10 % pro Monat (oder 120 % pro Jahr) finden Sie sonst nirgends. Dieser Zins entschädigt Sie bei Weitem für die Risiken, die Sie eingehen, wenn Sie einen Monat warten.
Zweite Frage: Möchten Sie lieber 1.000 Euro heute erhalten oder 1.100 Euro in einem Monat? Wenn Sie so ticken wie die meisten Menschen, dann entscheiden Sie sich für die 1.000 Euro heute. Das ist erstaunlich. In beiden Fällen müssen Sie genau einen Monat ausharren und erhalten dafür 100 Euro mehr. Im ersten Fall sagen Sie sich: Wenn ich schon ein Jahr gewartet habe, dann kann ich nun auch noch einen Monat länger warten. Im zweiten Fall nicht. Wir treffen also Entscheidungen, die – je nach Zeithorizont – inkonsistent sind. Die Wissenschaft nennt dieses Phänomen Hyperbolic Discounting (ein deutscher Ausdruck fehlt). Bedeutet: Unser »emotionaler Zinssatz« steigt an, je näher eine Entscheidung in der Gegenwart liegt.