Dass wir subjektiv mit unterschiedlichen Zinssätzen rechnen, haben die wenigsten Ökonomen begriffen. Ihre Modelle basieren auf konstanten Zinssätzen und sind entsprechend unbrauchbar.
Hyperbolic Discounting, also die Tatsache, dass wir im Bann der Unmittelbarkeit stehen, ist ein Überrest unserer tierischen Vergangenheit. Tiere sind nicht bereit, heute auf eine Belohnung zu verzichten, um in Zukunft mehr Belohnung zu realisieren. Ratten kann man trainieren so viel man will, sie werden niemals auf ein Stück Käse verzichten, um morgen zwei Stück zu erhalten. (Aber Eichhörnchen vergraben doch Nüsse, sagen Sie? – Reiner Instinkt, hat mit Impulskontrolle erwiesenermaßen nichts zu tun.)
Wie steht es bei Kindern? Walter Mischel hat in den 60er-Jahren einen berühmten Test zum Thema Belohnungsaufschub durchgeführt. Ein wunderbares Video ist auf YouTube unter dem Stichwort »Marshmallow-Test« zu finden. Dabei bekamen vierjährige Knirpse ein Marshmallow (Süßigkeit) vorgesetzt und wurden vor die Wahl gestellt, es entweder gleich zu essen oder ein zweites zu bekommen, wenn sie einige Minuten warten würden, ohne das erste Marshmallow zu essen. Erstaunlich: Nur die wenigsten Kinder konnten warten. Noch erstaunlicher: Mischel fand heraus, dass die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub ein verlässlicher Indikator für späteren Karriereerfolg ist.
Je älter wir werden und je mehr Selbstkontrolle wir aufbauen, desto leichter gelingt es uns, Belohnungen aufzuschieben. Statt zwölf Monate warten wir gern 13, um zusätzliche 100 Euro zu kassieren. Doch wenn wir eine Belohnung heute haben könnten, muss der Anreiz sehr hoch sein, damit wir bereit sind, sie aufzuschieben. Der beste Beweis dafür sind die Wucherzinsen für Kreditkartenschulden und andere kurzfristige Konsumkredite.
Fazit: Die unmittelbare Belohnung ist unheimlich verführerisch – und Hyperbolic Discounting trotzdem ein Denkfehler. Je mehr Macht wir über unsere Impulse gewinnen, desto besser gelingt es uns, diesen Fehler zu vermeiden. Je weniger Macht wir über unsere Impulse haben – zum Beispiel unter dem Einfluss von Alkohol –, desto mehr verfallen wir ihm. Carpe diem ist eine gute Idee – einmal die Woche. Doch jeden Tag zu genießen, als wäre es der letzte, ist Schwachsinn.
»In der Gemeinschaft ist es leicht, nach fremden Vorstellungen zu leben. In der Einsamkeit ist es leicht, nach eigenen Vorstellungen zu leben. Aber bemerkenswert ist nur der, der sich in der Gemeinschaft die Unabhängigkeit bewahrt.« (Ralph Waldo Emerson)
Es gibt eine heiße und eine kalte Theorie der Irrationalität. Die heiße Theorie ist uralt. Bei Platon findet sich dieses Bild: Der Reiter lenkt die wild galoppierenden Pferde. Der Reiter steht für die Vernunft, die galoppierenden Pferde für die Emotionen. Die Vernunft zähmt die Gefühle. Wenn das nicht gelingt, bricht die Unvernunft durch. Ein anderes Bild: Gefühle sind die brodelnde Lavamasse. Meistens kann die Vernunft sie unter dem Deckel halten. Doch ab und zu bricht die Lava der Irrationalität durch. Darum: heiße Irrationalität. Mit der Vernunft ist eigentlich alles in Ordnung, sie ist fehlerfrei, nur dass die Emotionen oft stärker sind.
Über Jahrhunderte brodelte diese heiße Theorie der Irrationalität. Bei Calvin sind die Gefühle das Böse, und nur die Konzentration auf Gott kann sie zurückdrängen. Menschen, aus denen die Lavamasse der Emotionen bricht, sind des Teufels. Sie wurden entsprechend gefoltert und umgebracht. Bei Freud werden die Gefühle (das Es) von Ich und Über-Ich kontrolliert. Doch das gelingt selten. Bei allem Zwang, bei aller Disziplin: Zu glauben, wir könnten unsere Emotionen restlos durch Denken kontrollieren, ist illusorisch – so illusorisch wie der Versuch, das Wachstum unserer Haare gedanklich zu steuern.
Die kalte Theorie der Irrationalität hingegen ist noch jung. Viele haben sich nach dem Krieg gefragt, wie die Irrationalität der Nazis zu erklären sei. Gefühlsausbrüche kamen in den Führungsrängen von Hitlers Regime kaum vor. Selbst seine eigenen, feurigen Reden waren nichts als schauspielerische Meisterleistungen. Keine Lavaausbrüche weit und breit, sondern eiskalte Entscheidungen führten in den nationalsozialistischen Irrsinn, und Ähnliches ließe sich von Stalin oder von den Roten Khmer sagen. Unfehlbare Rationalität? Offenbar doch nicht; etwas muss daran faul sein. In den 1960er-Jahren haben Psychologen begonnen, mit den unsinnigen Behauptungen von Freud aufzuräumen und unser Denken, Entscheiden und Handeln wissenschaftlich zu untersuchen. Das Ergebnis: eine kalte Theorie der Irrationalität, die besagt: Das Denken per se ist nicht rein, sondern fehleranfällig. Und zwar bei allen Menschen. Selbst Hochintelligente tappen immer wieder in dieselben Denkfallen. Und: Die Fehler sind nicht zufällig verteilt. Je nach Denkfehler laufen wir systematisch in eine ganz bestimmte Richtung falsch. Das macht unsere Fehler prognostizierbar, und damit zu einem gewissen Grad korrigierbar. Zu einem gewissen Grad – nicht vollständig.
Einige Jahrzehnte lang blieben die Ursprünge dieser Denkfehler im Dunkeln. Alles andere an unserem Körper funktioniert weitgehend fehlerfrei – das Herz, die Muskeln, die Atmung, das Immunsystem. Warum soll sich ausgerechnet das Hirn einen Lapsus nach dem andern leisten?
Denken ist ein biologisches Phänomen. Es ist genauso von der Evolution geformt wie die Körperformen von Tieren oder die Farben von Blüten. Angenommen, wir könnten 50.000 Jahre zurückgehen, einen beliebigen Vorfahren packen, ihn in unsere Gegenwart entführen, zum Friseur schicken und anschließend in Hugo-Boss-Klamotten stecken – er würde auf der Straße nicht auffallen. Natürlich, Deutsch müsste er lernen, Autofahren, den Mikrowellenherd bedienen, aber das mussten wir ja auch. Die Biologie hat jeden Zweifel ausgeräumt: Körperlich, und das schließt das Hirn mit ein, sind wir Jäger und Sammler in Hugo-Boss-Kleidern (oder H&M, je nachdem).
Was sich allerdings markant geändert hat seit damals, ist die Umgebung, in der wir leben. In Urzeiten war sie einfach und stabil. Wir lebten in Kleingruppen von ca. 50 Menschen. Es gab keinen nennenswerten technischen oder sozialen Fortschritt. Erst in den letzten 10.000 Jahren begann sich die Welt massiv zu verändern – Ackerbau, Viehzucht, Städte und der Welthandel kamen auf, und seit der Industrialisierung erinnert kaum mehr etwas an die Umwelt, für die unser Hirn optimiert ist. Wer heute eine Stunde durch ein Shoppingcenter schlendert, sieht mehr Menschen, als unsere Vorfahren während ihres ganzen Lebens gesehen haben. Wer heute zu wissen meint, wie die Welt in zehn Jahren aussehen wird, den lachen wir aus. In den letzten 10.000 Jahren haben wir eine Welt geschaffen, die wir nicht mehr verstehen. Wir haben alles raffinierter, aber auch komplexer und voneinander abhängiger gemacht. Das Ergebnis: erstaunlicher materieller Wohlstand, aber leider auch Zivilisationskrankheiten und, eben, Denkfehler. Nimmt die Komplexität weiterhin zu – und das wird sie, so viel lässt sich sagen –, werden diese Denkfehler häufiger und schwerwiegender.
Beispieclass="underline" In einer Jäger-und-Sammler-Umgebung zahlte sich Aktivität stärker aus als Nachdenken. Blitzschnelles Reagieren war überlebenswichtig, lange Grübeleien nachteilig. Wenn die Jäger-und-Sammler-Kumpels plötzlich davonrannten, machte es Sinn, ihnen nachzurennen – ohne nachzudenken, ob die wohl tatsächlich einen Säbelzahntiger gesehen hatten oder nur eine Wildsau. Ein Fehler erster Ordnung (es war ein gefährliches Tier und man rannte nicht davon) wurde mit dem Tod bezahlt, während der Fehler zweiter Ordnung (kein gefährliches Tier, aber man rannte davon) bloß ein paar Kalorien kostete. Es zahlte sich aus, in eine ganz bestimmte Richtung zu irren. Wer anders verdrahtet war, verschwand aus dem Genpool. Wir heutigen Homines sapientes sind die Nachfahren jener, die tendenziell den anderen nachrennen. Nur: Dieses intuitive Verhalten ist in der modernen Welt nachteilig. Die heutige Welt belohnt scharfes Nachdenken und unabhängiges Handeln. Wer einmal einem Börsenhype aufgesessen ist, weiß das.