Die evolutionäre Psychologie ist noch weitgehend eine Theorie, aber eine sehr überzeugende. Sie erklärt die meisten Denkfehler – wenn auch nicht alle. Nehmen wir folgende Aussage: »Jede Milka-Schokolade hat eine Kuh drauf. Also ist jede Schokolade, die eine Kuh drauf hat, eine Milka-Schokolade.« Dieser Fehler unterläuft selbst intelligenten Menschen ab und zu. Aber auch von der Zivilisation weitgehend unberührte Eingeborene fallen darauf rein. Und es gibt keinen Grund zu denken, dass ihn nicht schon unsere Jäger-und-Sammler-Vorfahren gemacht haben. Einige Fehler sind offenbar fest einprogrammiert und haben nichts mit der »Mutation« unserer Umwelt zu tun.
Wie erklärt sich das? Ganz einfach: Die Evolution »optimiert« uns nicht im absoluten Sinn. Solange wir besser sind als unsere Konkurrenten (zum Beispiel Neandertaler), verzeiht sie uns die Fehler. Seit Jahrmillionen legt der Kuckuck seine Eier ins Nest kleinerer Singvögel, und diese brüten sie aus, ja, ernähren die Kuckucksküken auch noch. Ein Verhaltensfehler, den die Evolution diesen Singvögeln (noch) nicht ausgetrieben hat – weil er offenbar nicht gravierend genug ist.
Eine zweite, parallele Erklärung, warum unsere Denkfehler so hartnäckig sind, kristallisierte sich Ende der 90er-Jahre heraus: Unsere Hirne sind auf Reproduktion ausgelegt und nicht auf Wahrheitsfindung. In anderen Worten: Wir brauchen unser Denken primär, um andere zu überzeugen. Wer andere überzeugt, sichert sich Macht und damit Zugang zu mehr Ressourcen. Dieser Ressourcenzugang wiederum ist ein entscheidender Vorteil bei der Paarung und Aufzucht der Nachkommen. Dass es uns beim Denken nicht primär um die Wahrheit geht, zeigt der Buchmarkt. Romane verkaufen sich viel besser als Sachbücher, trotz des unendlich höheren Wahrheitsgehalts der Letzteren.
Eine dritte Erklärung schließlich besagt: Intuitive Entscheidungen – auch wenn sie nicht ganz rational sind – sind unter bestimmten Umständen besser. Damit befasst sich die sogenannte Heuristikforschung. Für viele Entscheidungen fehlen die nötigen Informationen, also sind wir gezwungen, Denkabkürzungen und Daumenregeln (Heuristiken) anzuwenden. Wenn Sie sich zum Beispiel zu verschiedenen Frauen hingezogen fühlen (oder Männern): Wen sollen Sie heiraten? Das geht nicht rational; verlassen Sie sich nur aufs Denken, bleiben Sie ewig Junggeselle. Kurzum, oft entscheiden wir intuitiv und begründen unsere Wahl nachträglich. Viele Entscheidungen (Job, Lebenspartner, Investment) fallen unbewusst. Sekundenbruchteile später konstruieren wir eine Begründung, was uns den Eindruck gibt, bewusst entschieden zu haben. Unser Denken ist eher vergleichbar mit einem Anwalt als mit einem Wissenschaftler, dem es um die reine Wahrheit geht. Anwälte sind gut darin, die bestmögliche Begründung für einen bereits festgelegten Schluss zu konstruieren.
Also: Vergessen Sie die »linke und rechte Gehirnhälfte«, wie sie in jedem semi-intelligenten Managementbuch beschrieben werden. Viel wichtiger ist der Unterschied zwischen dem intuitiven und dem rationalen Denken. Beide haben ihr legitimes Einsatzgebiet. Das intuitive Denken ist schnell, spontan und energiesparend. Das rationale Denken ist langsam, anstrengend und verbraucht viele Kalorien (in Form von Blutzucker).
Natürlich kann das Rationale ins Intuitive übergehen. Wenn Sie ein Instrument üben, lernen Sie Note für Note und befehlen jedem einzelnen Finger, was zu tun ist. Mit der Zeit haben Sie die Klaviatur oder die Saiten intuitiv im Griff: Sie sehen eine Partitur vor sich und die Hände spielen wie von selbst. Warren Buffett liest eine Bilanz, wie ein professioneller Musiker eine Partitur liest. Das ist es, was man »Circle of Competence« nennt: intuitives Verständnis oder auch Meisterschaft. Leider springt das intuitive Denken auch dort in die Gänge, wo wir es nicht zur Meisterschaft gebracht haben – und dies, bevor die pingelige Vernunft korrektiv eingreifen kann. Und dann passieren Denkfehler.
Weil die kalte Theorie der Irrationalität so jung ist, gibt es für die wenigsten Denkfehler einen gängigen deutschen Begriff. Ich habe daher meist den englischen gewählt und den deutschen – falls eine Übersetzung existiert oder möglich ist – in Klammern dazugesetzt.
Drei Bemerkungen zum Schluss: Erstens, die Liste der im vorliegenden Buch aufgeführten Denkfehler ist nicht vollständig.
Zweitens, es geht hier nicht um pathologische Störungen. Trotz dieser Denkfehler können wir den Alltag problemlos bestreiten. Ein CEO, der wegen eines Denkfehlers eine Milliarde in den Sand setzt, läuft nicht Gefahr, in eine Klinik eingewiesen zu werden. Es gibt kein Gesundheitssystem, nicht einmal ein Medikament, das ihn von diesem Fehler befreien könnte.
Drittens, die meisten Denkfehler hängen zusammen. Das sollte nicht überraschen, denn alles im Hirn ist vernetzt. Neuronale Projektionen führen von Hirnregion zu Hirnregion. Keine einzige Hirnregion steht für sich selbst.
Seit ich begonnen habe, Denkfehler zu sammeln und zu beschreiben, werde ich oft gefragt: »Herr Dobelli, wie schaffen Sie es, ohne Denkfehler zu leben?« Antwort: Ich schaffe es nicht. Genau genommen versuche ich es gar nicht. Denkfehler zu umgehen ist mit Aufwand verbunden. Ich habe mir die folgende Regel gesetzt: In Situationen, deren mögliche Konsequenzen groß sind (bei gewichtigen privaten oder geschäftlichen Entscheidungen), versuche ich, so vernünftig und rational wie möglich zu entscheiden. Ich zücke meine Liste der Denkfehler und gehe sie durch, eine um die andere, wie ein Pilot eine Checkliste benützt. Ich habe für mich einen handlichen Checklisten-Entscheidungsbaum entworfen, mit dem ich gewichtige Entscheidungen auf Herz und Nieren prüfen kann. In Situationen, deren Konsequenzen klein sind (bei Entscheidungen wie: BMW oder VW?) verzichte ich auf rationale Optimierung und lasse mich von meiner Intuition tragen. Klar zu denken ist aufwendig. Darum: Wenn der mögliche Schaden klein ist – zerbrechen Sie sich nicht den Kopf und lassen Sie die Fehler zu. Sie leben besser damit. Die Natur scheint sich nicht groß zu kümmern, ob unsere Entscheidungen perfekt sind oder nicht, solange wir uns einigermaßen sicher durchs Leben manövrieren – und solange wir aufpassen, wenn es um die Wurst geht.
ANHANG
Dank
Ich danke Nassim Nicholas Taleb für die Inspiration zu diesem Buch – auch wenn er mir angeraten hat, es unter keinen Umständen zu publizieren (»Schreib lieber Romane, Sachbücher sind unsexy«). Ich danke Koni Gebistorf, der die Texte mit Meisterschaft redigiert hat. Giuliano Musio danke ich für den orthografischen Schliff und Arnhild Walz-Rasilier für ihre ausgezeichneten Verbindungen zur Verlagswelt. Ohne den allwöchentlichen Druck, die eigenen Gedanken in ein lesbares Format zu gießen, gäbe es dieses Buch nicht. Ich danke Dr. Frank Schirrmacher, dass er die Kolumne in die FAZ geholt hat, und Martin Spieler, der ihr mit der SonntagsZeitung einen Hafen in der Schweiz zur Verfügung gestellt hat. Ich danke der Grafikerin Birgit Lang für die Illustrationen zu meinen Texten. Die Argusaugen der Redakteure Sebastian Ramspeck und Balz Spörri (beide SonntagsZeitung) und Dr. Hubert Spiegel (FAZ) haben Fehler und Unklarheiten ausgemerzt, bevor die Kolumne allwöchentlich in den Druck ging – herzlichen Dank. Für alles, was nach den unzähligen Schritten des Redigierens hier steht, trage allein ich die Verantwortung.
Literatur
Zu fast jedem Denkfehler gibt es Hunderte von Studien. Ich habe mich hier auf die wichtigsten Zitate, technischen Referenzen, Leseempfehlungen und Kommentare beschränkt. Die Zitate habe ich in der Originalsprache belassen.