Die Es-wird-schlimmer-bevor-es-besser-kommt-Falle ist eine Spielvariante des sogenannten Confirmation Bias. Ein Fachmann, der nichts von seinem Fach versteht oder unsicher ist, tut gut daran, in diese Trickkiste zu greifen. Geht es weiter bergab, bestätigt sich seine Vorhersage. Geht es unerwarteterweise hinauf, ist der Kunde glücklich, und der Fachmann kann die Verbesserung seinem Können zuschreiben. So oder so – er hat immer recht.
Angenommen, Sie werden Präsident eines Landes und haben nicht die geringste Ahnung, wie das Land zu führen sei. Was tun Sie? Prognostizieren Sie »schwierige Jahre«, fordern Sie Ihre Landsleute auf, den »Gürtel enger zu schnallen«, und versprechen Sie eine Verbesserung der Situation erst nach dieser »heiklen Phase« der »Reinigung«, »Entschlackung«, »Restrukturierung«. Lassen Sie es dabei bewusst offen, wie lange und wie tief das Tal der Tränen sein wird.
Der beste Beleg für den Erfolg dieser Strategie liefert das Christentum: Bevor das Paradies auf Erden kommt, heißt es, muss die Welt zugrunde gehen. Die Katastrophe, die Sintflut, das Weltfeuer, der Tod – sie sind Teil eines größeren Plans und müssen sein. Der Gläubige wird jede Verschlechterung der Situation als Bestätigung der Prophezeiung und jede Verbesserung als Geschenk Gottes erkennen.
Fazit: Sagt jemand: »Es wird schlimmer, bevor es besser wird«, sollten bei Ihnen die Alarmglocken läuten. Aber Vorsicht: Es gibt tatsächlich Situationen, bei denen es erst nochmals runter- und erst dann wieder raufgeht. Ein Karrierewechsel kostet unter Umständen Zeit und ist mit Lohnausfall verbunden. Die Reorganisation eines Firmenbereiches braucht eine gewisse Zeit. Doch in all diesen Fällen sieht man relativ schnell, ob die Maßnahmen greifen. Die Meilensteine sind klar und überprüfbar. Schauen Sie darauf, und nicht in den Himmel.
Warum selbst die wahren Geschichten lügen
»Wir probieren Geschichten an, wie man Kleider anprobiert«, heißt es bei Max Frisch.
Das Leben ist ein Wirrwarr, schlimmer als ein Wollknäuel. Stellen Sie sich einen unsichtbaren Marsmenschen vor, der mit einem ebenso unsichtbaren Notizbuch in der Hand neben Ihnen hergeht und alles notiert, was Sie tun und denken und träumen. Das Protokoll Ihres Lebens bestünde aus Beobachtungen wie »Kaffee getrunken, zwei Würfelzucker«, »auf einen Reißnagel getreten und die Welt verflucht«, »geträumt: Nachbarin geküsst«, »Urlaub gebucht, Malediven, schweineteuer«, »Haar im Ohr, gleich weggezupft« und so weiter. Dieses Chaos von Einzelheiten zwirnen wir zu einer Geschichte. Wir wollen, dass unser Leben einen Strang bildet, dem wir folgen können. Viele nennen diese Leitschnur »Sinn«. Verläuft unsere Geschichte über Jahre hinweg gerade, nennen wir sie »Identität«.
Dasselbe stellen wir mit den Details der Weltgeschichte an. Wir zwängen sie in eine widerspruchslose Geschichte. Das Resultat? Plötzlich »verstehen« wir zum Beispiel, warum der Versailler Vertrag zum Zweiten Weltkrieg oder warum die lockere Geldpolitik von Alan Greenspan zum Zusammenbruch von Lehman Brothers geführt hat. Wir verstehen, warum der Eiserne Vorhang fallen musste oder Harry Potter zum Bestseller wurde. Was wir »Verstehen« nennen, hat damals natürlich niemand verstanden. Konnte gar niemand verstehen. Wir konstruieren den »Sinn« nachträglich hinein. Geschichten sind also eine fragwürdige Sache – aber scheinbar können wir nicht ohne. Warum nicht, ist unklar. Klar ist, dass Menschen die Welt zuerst durch Geschichten erklärt haben, bevor sie begannen, wissenschaftlich zu denken. Die Mythologie ist älter als die Philosophie. Das ist der Story Bias: Geschichten verdrehen und vereinfachen die Wirklichkeit. Sie verdrängen alles, was nicht so recht hineinpassen will.
In den Medien wütet der Story Bias wie eine Seuche. Beispieclass="underline" Ein Auto fährt über eine Brücke. Plötzlich kracht die Brücke zusammen. Was werden wir in den Zeitungen am nächsten Tag lesen? Wir werden die Geschichte des Pechvogels hören, der im Auto saß, von wo er kam und wohin er fahren wollte. Wir werden seine Biografie erfahren: geboren in Soundso, aufgewachsen in Soundso, Beruf soundso. Wir werden, falls er überlebt hat und Interviews geben kann, genau hören, wie es sich anfühlte, als die Brücke zusammenkrachte. Das Absurde: Keine einzige dieser Geschichten ist relevant. Relevant ist nämlich nicht der Pechvogel, sondern die Brückenkonstruktion: Wo genau lag der Schwachpunkt? War es Materialermüdung und falls ja, wo? Falls nein, war die Brücke beschädigt? Falls ja, durch was? Oder wurde gar ein grundsätzlich untaugliches Konstruktionsprinzip angewandt? Das Problem bei all diesen relevanten Fragen: Sie lassen sich nicht in eine Geschichte packen. Zu Geschichten fühlen wir uns hingezogen, von abstrakten Tatsachen abgestoßen. Das ist ein Fluch, denn relevante Aspekte werden zugunsten irrelevanter abgewertet. (Und es ist gleichzeitig ein Glück, denn sonst gäbe es nur Sachbücher und keine Romane.)
An welche der folgenden Geschichten würden Sie sich besser erinnern? A) »Der König starb, und dann starb die Königin.« B) »Der König starb, und dann starb die Königin vor Trauer.« Wenn Sie so ticken wie die meisten Menschen, werden Sie die zweite Geschichte besser behalten. Hier folgen die beiden Tode nicht einfach aufeinander, sondern sind emotional miteinander verknüpft. Geschichte A ist ein Tatsachenbericht. Geschichte B macht »Sinn«. Nach der Informationstheorie sollte eigentlich Geschichte A einfacher zu speichern sein. Sie ist kürzer. Aber so tickt unser Hirn nicht.
Werbung, die eine Geschichte erzählt, funktioniert besser als das rationale Aufzählen von Produktvorteilen. Nüchtern betrachtet sind Geschichten zu einem Produkt so etwas von nebensächlich. Aber so funktioniert unser Hirn nicht. Es will Geschichten. Meisterhaft beweist dies Google in dem amerikanischen Super-Bowl-Spot von 2010, der auf YouTube unter »Google Parisian Love« zu finden ist.
Fazit: Von der eigenen Biografie bis hin zum Weltgeschehen – alles drechseln wir zu »sinnhaften« Geschichten. Damit verzerren wir die Wirklichkeit – und das beeinträchtigt die Qualität unserer Entscheidungen. Zur Gegensteuerung: Pflücken Sie die Geschichten auseinander. Fragen Sie sich: Was will die Geschichte verbergen? Und zum Training: Versuchen Sie, Ihre eigene Biografie einmal zusammenhangslos zu sehen. Sie werden staunen.
Warum Sie ein Tagebuch schreiben sollten
Ich habe die Tagebücher meines Großonkels gefunden. Er war 1932 von Lenzburg nach Paris ausgewandert, um sein Glück in der Filmindustrie zu suchen. Im August 1940 – einen Monat nach der deutschen Besetzung von Paris – notiert er: »Hier rechnen alle damit, dass sie Ende des Jahres wieder abziehen. Das bestätigen mir auch die deutschen Offiziere. So schnell, wie Frankreich gefallen ist, wird England fallen. Und dann werden wir endlich wieder unseren Pariser Alltag zurückhaben – wenn auch als Teil von Deutschland.«
Wer heute ein Geschichtsbuch über den Zweiten Weltkrieg aufschlägt, wird mit einer ganz anderen Geschichte konfrontiert. Die vierjährige Besetzung Frankreichs scheint einer stringenten Kriegslogik zu folgen. Rückblickend erscheint der faktische Kriegsverlauf als das wahrscheinlichste aller möglichen Szenarien. Warum? Weil wir Opfer des Rückschaufehlers (englisch: »hindsight bias«) sind.
Wer heute die Wirtschaftsprognosen des Jahres 2007 nachliest, ist überrascht, wie positiv damals die Aussichten für die Jahre 2008 bis 2010 ausgefallen sind. Ein Jahr später, 2008, implodierte der Finanzmarkt. Nach den Ursachen der Finanzkrise befragt, antworten dieselben Experten heute mit einer stringenten Geschichte: Ausweitung der Geldmenge unter Greenspan, lockere Vergabe von Hypotheken, korrupte Ratingagenturen, legere Eigenkapitalvorschriften und so weiter. Die Finanzkrise erscheint rückblickend als vollkommen logisch und zwingend. Und doch hat kein einziger Ökonom – es gibt weltweit rund eine Million davon – ihren genauen Ablauf vorausgesagt. Im Gegenteiclass="underline" Selten ist eine Expertengruppe dem Rückschaufehler so sehr auf den Leim gekrochen.