Wir haben im letzten Kapitel gesehen, dass Menschen nur schlecht zwischen verschiedenen Risiken unterscheiden können. Je gravierender die Gefahr, je emotionaler das Thema (Beispieclass="underline" Radioaktivität) ist, desto weniger beruhigt uns die Reduktion des Risikos. Zwei Forscher an der Universität von Chicago haben gezeigt, dass Menschen eine Verschmutzung durch toxische Chemikalien genau gleich fürchten, egal ob das Risiko 99 % oder 1 % beträgt. Eine irrationale Reaktion, aber eine übliche. Offenbar ist uns nur das Nullrisiko heilig. Es zieht uns an wie das Licht die Mücken, und wir sind oft bereit, übermäßig viel Geld zu investieren, um ein winziges Restrisiko komplett aus der Welt zu räumen. In fast allen Fällen hätte man dieses Geld besser investiert, um eine viel größere Reduktion eines anderen Risikos zu erzielen. Diesen Entscheidungsfehler nennt man den Zero-Risk Bias (deutsch: Null-Risiko-Fehler).
Das klassische Beispiel dieses Entscheidungsfehlers ist das amerikanische Lebensmittelgesetz von 1958. Es verbietet Lebensmittel, die krebserregende Substanzen enthalten. Dieses Totalverbot (Nullrisiko) klingt erst mal gut, führte aber dazu, dass nicht krebserregende, aber gefährlichere Lebensmittelzusätze verwendet wurden. Unsinnig ist es auch, weil wir seit Paracelsus, also seit dem 16. Jahrhundert wissen, dass Gift immer eine Frage der Dosierung ist. Und schließlich ist das Gesetz sowieso nicht durchzusetzen, weil man nicht das hinterste und letzte »verbotene« Molekül aus einem Lebensmittel entfernen kann. Jeder Bauernhof würde einer Computerchipfabrik gleichen, und der Preis für Lebensmittel dieses Reinheitsgrades würde sich verhundertfachen. Gesamtwirtschaftlich betrachtet machen Nullrisiken selten Sinn. Außer, wenn die Konsequenzen riesig sind (zum Beispiel falls gefährliche Viren aus Labors austreten würden).
Im Straßenverkehr ist das Nullrisiko nur zu erreichen, wenn wir das Geschwindigkeitslimit auf null Kilometer pro Stunde reduzieren. Hier nehmen wir – vernünftigerweise – eine statistisch klar bestimmbare Anzahl Tote pro Jahr in Kauf.
Angenommen, Sie sind Staatschef und wollen das Risiko eines Terroranschlags ausschalten. Sie müssten jedem einzelnen Bürger einen Spitzel zuteilen – und je einen Spitzel für jeden Spitzel. Im Nu wären 90 % der Bevölkerung Überwacher. Wir wissen, dass solche Gesellschaften nicht überlebensfähig sind.
Und an der Börse? Gibt es das Nullrisiko, also die totale Sicherheit? Leider nein, selbst wenn Sie Ihre Aktien verkaufen und das Geld auf einem Konto parken. Die Bank könnte pleitegehen, die Inflation frisst Ihre Ersparnisse weg, oder eine Währungsreform vernichtet Ihr Vermögen. Vergessen wir nicht, dass Deutschland im letzten Jahrhundert zweimal eine neue Währung eingeführt hat.
Fazit: Verabschieden Sie sich von der Vorstellung des Nullrisikos. Lernen Sie damit zu leben, dass nichts sicher ist – weder Ihre Ersparnisse, Ihre Gesundheit, Ihre Ehe, Ihre Freundschaften, Ihre Feindschaften noch Ihr Land. Und trösten Sie sich damit, dass es doch etwas gibt, was ziemlich stabil ist: die eigene Glückseligkeit. Forschungen haben gezeigt, dass weder der Millionen-Lottogewinn noch eine Querschnittslähmung Ihre Zufriedenheit langfristig verändern. Glückliche Menschen bleiben glücklich, egal was ihnen geschieht, unglückliche unglücklich. Mehr dazu im Kapitel Hedonic Treadmill.
DER KNAPPHEITSIRRTUM
Warum knappe Kekse besser schmecken
Kaffee bei einer Freundin. Ihre drei Kinder tollten auf dem Fußboden herum, während wir versuchten, Konversation zu machen. Dann erinnerte ich mich, dass ich Glasmurmeln mitgebracht hatte – eine ganze Tüte voll. Ich schüttete sie auf dem Fußboden aus, in der Hoffnung, die Rabauken würden damit in Ruhe spielen. Weit gefehlt: Sofort entbrannte ein heftiger Streit. Ich begriff nicht, was los war, bis ich genauer hinsah. Offenbar gab es unter den unzähligen Murmeln genau eine blaue, und die Kinder rissen sich um sie. Alle Murmeln waren genau gleich groß, schön und leuchtend. Doch die blaue hatte einen entscheidenden Vorteil – sie war rar. Ich lachte: Wie kindisch Kinder doch sind! Als ich im August 2005 hörte, dass Google einen eigenen E-Mail-Service lancieren würde, der »sehr selektiv« und nur »auf Einladung« herausgegeben würde, war ich ganz versessen darauf, ein Log-in zu erhalten – was mir schließlich gelang. Warum nur? Sicher nicht, weil ich ein zusätzliches E-Mail-Konto brauchte (ich hatte zu dieser Zeit schon vier), auch nicht, weil Gmail besser war als die Konkurrenzprodukte, sondern einfach, weil nicht alle Zugriff darauf hatten. Rückblickend muss ich lachen: Wie kindisch Erwachsene doch sind!
»Rara sunt cara«, sagten die Römer, Seltenes ist wertvoll. Tatsächlich ist der Knappheitsirrtum so alt wie die Menschheit. Die Freundin mit den drei Kindern ist im Nebenberuf Immobilienmaklerin. Wann immer sie einen Interessenten an der Angel hat, der sich nicht entscheiden kann, ruft sie ihn an und sagt: »Ein Arzt aus London hat sich das Grundstück gestern angesehen. Er ist sehr interessiert. Wie steht es bei Ihnen?« Der Arzt aus London – manchmal sagt sie »Professor« oder »Bankier« – ist natürlich frei erfunden. Der Effekt, den er hat, ist aber sehr reaclass="underline" Er bewegt den Interessenten zum Abschluss. Warum? Potenzielle Verknappung des Angebots, schon wieder. Objektiv betrachtet nicht nachvollziehbar, denn entweder der Interessent will das Grundstück zum besagten Preis, oder er will es nicht – ganz unabhängig von irgendwelchen »Ärzten aus London«.
Um die Qualität von Keksen zu beurteilen, teilte Professor Stephen Worchel Testkonsumenten in zwei Gruppen. Die erste Gruppe erhielt eine ganze Schachtel Kekse. Die zweite Gruppe lediglich zwei Stück. Ergebnis: Die Probanden mit nur zwei Keksen stuften die Qualität des Gebäcks wesentlich höher ein als die erste Gruppe. Der Versuch wurde mehrmals wiederholt – stets mit demselben Ergebnis.
»Nur solange Vorrat!«, heißt es in der Werbung. »Nur noch heute!«, schreit ein Plakat und signalisiert zeitliche Knappheit. Galeristen wissen, dass sie mit Vorteil unter der Mehrzahl der Bilder einen roten Punkt setzen, was bedeutet: Das meiste ist schon weg. Wir sammeln Briefmarken, Münzen oder Oldtimer – obwohl sie keinen Nutzen mehr haben. Keine Poststelle akzeptiert die alten Briefmarken, kein Laden die Taler, Kreuzer oder Heller, und die Oldtimer sind nicht mehr zugelassen. Egal, Hauptsache, sie sind knapp.
Studenten wurden gebeten, zehn Poster der Attraktivität nach zu ordnen – mit dem Versprechen, sie dürften als kleines Dankeschön eines davon behalten. Fünf Minuten später sagte man ihnen, dass das am dritthöchsten beurteilte Poster nicht mehr verfügbar sei. Dann wurden sie unter einem Vorwand gebeten, alle zehn Poster erneut zu beurteilen. Das Poster, das nicht mehr verfügbar war, wurde jetzt plötzlich als schöner eingestuft. In der Wissenschaft nennt man dieses Phänomen Reaktanz: Wir werden um eine Option beraubt, und wir reagieren darauf, indem wir die nun unmöglich gewordene Option als attraktiver beurteilen. Eine Art Trotzreaktion. In der Psychologie auch Romeo-und-Julia-Effekt genannt: Die Liebe der beiden tragischen Shakespeare-Teenies ist darum so stark, weil sie verboten ist. Dabei muss die Sehnsucht nicht unbedingt romantischer Art sein: In den USA bedeutet eine Schülerparty vornehmlich, sich heillos zu betrinken – weil Alkoholkonsum unter 21 gesetzlich verboten ist.
Fazit: Unsere typische Reaktion auf Knappheit ist der Verlust des klaren Denkens. Beurteilen Sie deshalb eine Sache einzig anhand des Preises und des Nutzens. Ob ein Gut knapp ist oder nicht, ob irgendein »Arzt aus London« das Ding auch noch will, darf keine Rolle spielen.