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Non vi si pensa quanto sangue costa.

Dabei denkt niemand, wie viel Blut geflossen.

Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie,

Das Paradies, XXIX. Gesang

Prolog

Florenz, Anno Domini 1564

Der dampfende Atem des Pferdes kräuselte sich nur kurz in der Luft, bevor die Februarkälte ihn aufsog. Sein Reiter hatte keinen Blick für die Schönheit der Stadt Florenz, wie sie tief im Schnee versunken vor ihm lag. Ein krampfhafter Husten schüttelte ihn, während er, den Kopf gesenkt, mit aller Kraft gegen das Sterben anritt. Er spuckte aus. Der Tod war von allen Erfindungen Gottes vielleicht die schlechteste.

Auch gut anderthalb Jahrtausende nach der Geburt des Herrn, gelobt sei sein Name, war es kein unbeschwertes Vergnügen, sich allein über die Hauptstraße Italiens von Rom nach Florenz zu begeben. Es grenzte an ein Wunder, dass ihm unterwegs niemand aufgelauert hatte außer ein paar Straßenjungen, die sich aus Übermut als Wegelagerer versuchten. Es hatte ihn nur einen kräftigen Fluch gekostet, sie zu verscheuchen.

Wie eine Fliege auf einem weißen Bogen Papier zog der schwarz gekleidete Reiter auf dem Rappen seine Bahn durch die verschneite Landschaft vor der Stadt. Er hielt auf die mächtige Porta di San Pietro Gatolini zu, die ihm mit ihren hohen, wuchtigen Eichenholzflügeln vorkam wie ein riesiger Bär, der mit aufgerissenem Maul darauf wartete, alles zu verschlingen, was sich ihm näherte. Er zügelte das Pferd nur wenig und ritt gerade so langsam, wie es nötig war, um zwischen den Bauern und ihren Karren, die sich vor dem Stadttor drängten, hindurchzukommen. Die Torwachen, die sonst jeden Ankömmling zu schikanieren wussten, wagten nicht, ihn aufzuhalten. Sein grimmiger Blick ließ sie zurückschrecken und Gott weiß wohin schauen, nur nicht mehr zu ihm. Er nahm es kaum zur Kenntnis, sondern eilte weiter.

Auf der Brücke über den Arno erfüllten die Tritte des Pferdes die eisige Luft mit einem dumpfen Stakkato. Der Reiter schüttelte sich, als ihm der scharf-süßliche Gestank von Urin in die Nase drang. Das Miasma ging von den Gerbern aus, die auf der Brücke ihre Häuschen errichtet hatten und die anrüchige Flüssigkeit in rauen Mengen zum Gerben verwandten. Vor einem der kleinen Häuser lud ein Mann graue Rinderhäute von einem Ochsenkarren, stolperte und fiel dem Rappen vor die Füße. Der Reiter konnte das Pferd gerade noch zur Seite reißen, bevor die Hufe den Mann trafen. Zum Dank rief der Gerber ihm lallend einen Schwall Verwünschungen nach. Am liebsten hätte er kehrtgemacht und dem Trunkenbold Manieren beigebracht, aber er durfte sich durch nichts aufhalten lassen. Messèr Daniele da Volterra hatte ihn beschworen, sich zu eilen – jede Minute zähle. Schließlich ging es um den bedeutendsten Künstler aller Zeiten.

Vor dem Dom mit seiner gewaltigen Kuppel, die man auch das Wunder von Florenz nannte, hatten ein paar übermütige Bildhauerlehrlinge überlebensgroße Figuren aus Schnee geformt. Im trüben Licht des späten Winternachmittags stand da sogar eine Nachbildung von Michelangelos David. Der harmlose Anblick versetzte dem Reiter einen Stich ins Herz. War sein verehrter Meister noch am Leben?

Als Ascanio Romano endlich den Borgo Santa Croce erreichte, fand er ihn menschenleer. Bei der eisigen Kälte verließ niemand das Haus, der es nicht unbedingt musste. Er atmete erleichtert auf, als ihm ein dickes Bündel aus schwarzem Stoff entgegentänzelte, das sich beim Näherkommen als Priester entpuppte.

»Hochwürden, wisst Ihr, wo Messèr Giorgio Vasari wohnt?«

»Dort vorn, mein Sohn«, sagte der Geistliche und wies mit seinem fleischigen Mittelfinger auf ein schmales Haus.

Vom Pferd springen, das Tier an einen Eisenring binden und anklopfen waren eins. Ein Diener öffnete die Tür und starrte den Besucher mit offenem Mund an.

»Bring mich sofort zu Messèr Vasari!«, rief Ascanio, vor Ungeduld barscher als beabsichtigt.

Dazu machte der Diener allerdings keine Anstalten, sondern musterte den Besucher, der etwas heruntergekommen aussah, mit hochgezogenen Augenbrauen. Die beiden Tage im Sattel hatten ihre Spuren hinterlassen.

»Wen darf ich denn melden?«, fragte er.

Wut stieg in Ascanio hoch. Er hatte sich doch nicht die Seele aus dem Leib gehetzt, nur damit ein Diener jetzt sein Spielchen mit ihm trieb! Es gab ein hohles Geräusch, als er derb mit der Faust die Tür aufstieß und das massive Blatt gegen den Kopf des Dieners schlug.

Aus dem piano nobile drangen heiteres Lautenspiel und die vergnügten Stimmen von Menschen, die sich prächtig unterhielten. Ascanio stürmte die Treppe hinauf, bog in einen Flur und fand sich gleich darauf in einem Saal wieder, der ihm wie das Paradies vorkam. Im Kamin prasselte ein Feuer, dessen Wärme ihn nach den Tagen draußen magisch anzog. Er sah sich um und glaubte einen Augenblick lang zu träumen. An den Wänden schimmerten im Kerzenlicht herrliche Fresken, die in Allegorien die Geschichte der Kunst erzählten. Um einen schweren Tisch saßen einige Männer und eine Frau. Vermutlich war es die Hausherrin, denn für eine Kurtisane wirkte sie in ihrem hochgeschlossenen Kleid zu züchtig. Gedünstetes Gemüse und gebratenes Fleisch boten sich in duftender Vielfalt in silbernen Schüsseln der kleinen Gesellschaft dar. Ausgehungert, wie er war, sog der Bote die Essensdüfte tief ein. In goldenen Krügen stand Wein, in solchen aus Ton Wasser bereit.

Ein Mann, dessen rundlicher Bauch und rote Nase von seiner Vorliebe für Speis und Trank zeugten, gab gerade einen Scherz zum Besten. Das wollüstige Funkeln seiner Schweinsäuglein ließ auf eine Zote schließen. Als er den Ankömmling bemerkte, erstarrte er mit geblähten Nasenflügeln und gespitzten Lippen mitten im Satz, was ihn noch schweineähnlicher aussehen ließ.

Ascanios Blick wanderte zwischen der Tischrunde und einem Fresko hin und her: Auf der Darstellung erkannte er das Porträt eines Paares, des Hausherrn und seiner Gemahlin. Der Mann, dessen vorgerücktes Alter an seinem Gesicht, nicht aber an seiner dunklen Lockenpracht zu erkennen war, trug ein kostbares, pelzbesäumtes Gewand und saß am Ende des Tisches, die Frau zu seiner Rechten. Als der Hausherr die Hand hob, spielte der Schein der Kerzen im Gold der Ringe an seinen Fingern. Die beiden Lautenspieler hatten ihre Instrumente sinken lassen, und Stille erfüllte den Raum. Alle Blicke waren voller Neugier auf den unerwarteten Besucher gerichtet.

Ascanio trat von einem Fuß auf den anderen und konnte sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten. Eine tiefe Müdigkeit hatte ihn überkommen. Zu gern hätte er sich niedergelegt und ausgiebig geschlafen, aber erst musste er seine Pflicht erfüllen.

»Messèr, seid Ihr der Maler und Baumeister Giorgio Vasari?«, brachte er, an den Mann im Pelzmantel gewandt, mit einem Keuchen hervor. Dieser nickte kurz.

»Mich schickt Messèr Daniele da Volterra, untertänigsten Gruß zuvor, Ihr mögt nicht zögern noch zaudern, sondern, so schnell es eben geht, nach Rom kommen, denn unser aller Meister Michelangelo Buonarroti liegt im Sterben.«

»Nein!«, schrie Vasari und sprang auf. »Nicht Michelangelo! Nimm mich, Herr, aber nicht ihn, nicht ihn!«

Ratlosigkeit, Trauer und Schrecken breiteten sich auf den Gesichtern der Anwesenden aus. Die gute Stimmung war augenblicklich verflogen.

»Ich breche sofort auf!«, entschied Vasari.

Seine Frau wollte ihm den Entschluss ausreden, verwies auf die einbrechende Nacht und riet, den neuen Tag für die Reise zu nutzen, doch er nahm die Argumente, und waren sie auch noch so vernünftig, überhaupt nicht zur Kenntnis. Mit einem Blick auf Ascanio verfügte er, dass dieser bewirtet werden, zu Kräften kommen und ihm anschließend folgen solle.

»Vorerst reicht es aus, wenn mein treuer Giuseppe mich begleitet!«, sagte er, bevor er, nach dem Diener rufend, aus dem Raum stürzte. Vasaris Frau blickte ihrem Gemahl sorgenvoll nach, besann sich dann aber mit einem Seufzen ihrer Pflichten als Hausherrin. Sie bot Ascanio einen Platz am Tisch, Wein und Essen an. Er spürte, dass sie sich dazu überwinden musste, denn er war ein Bote des Todes, und den mochte niemand. Teufel noch eins, fragte sich Ascanio, wann würde das endlich aufhören?