Auch auf dem Fresko in der Sixtina gerieten ihm Christus und Maria wieder gleichaltrig. Doch der auferstandene Christus war der strafende Christus – nicht länger derjenige, der die Sünden der Welt auf sich nahm, sondern derjenige, der die Menschen hart und gnadenlos richtete. Ob es an seinen durch das Übermaß an Arbeit überreizten Nerven lag oder einer handfesten Lebenskrise, war Michelangelo gleich. Er wusste auf einmal nicht mehr, was er glauben sollte. Wie konnte Gott das Böse zulassen? Wenn es seinem Plan oder seinem Phlegma entsprach und der Allmächtige dadurch eine Mitschuld trug, wie konnte er dann das Böse bestrafen? Dann fragte er sich wiederum, warum ihn ausgerechnet diese Gedanken quälten? Hatte Gott ihn verlassen oder er etwa Gott?
Wie stand es denn um ihn? Hielt ihn nur die Angst vor den ewigen Höllenstrafen, wie er sie gemalt hatte, von den Sünden ab oder die Liebe zu Gott? War es Eigenliebe oder Glaube, panische Angst oder bewusste Entscheidung? Der tote Christus der Pietà in der Peterskirche, den Maria auf ihrem Schoß hielt, und der streng richtende Gott des Jüngsten Gerichts in der Sixtina unterschieden sich so stark voneinander, dass er die Bilder nicht mehr zusammenbringen konnte.
Michelangelo glaubte den Verstand zu verlieren. Er ertrug sein eigenes Fresko nicht mehr, weil es ihn selbst infrage stellte, sein ganzes Leben und Denken. Was blieb denn noch, wenn die Gewissheit seiner selbst vor den eigenen, fassungslos aufgerissenen Augen zerfiel? Der Blick durch die Kunst hindurch auf sich selbst zurück konnte tödlich sein!
Er führte den Esel in den Stall. Dann begab er sich, ungeachtet seiner Müdigkeit, nacheinander in die sieben Wallfahrtskirchen Roms und betete vor den Reliquien. Auf den Knien bat er den Herrn in verzweifelten Gebeten um Erleuchtung. Zeitlebens war er ein gläubiger Christ gewesen, und nun wusste er plötzlich nicht mehr, was er tun konnte, um den Strafen zu entgehen. Denn auch nach ihm würden die Engel treten. In das nicht zugehaltene Auge des Jungen, der dem Burschen glich, dessen Tod er damals in den Marmorbrüchen von Colonnata beobachtet hatte, und der wissend und sehend langsam in die Hölle sank, malte er seinen eigenen Schrecken.
Am Morgen stand er dann vor dem Tegurium inmitten der Vierung des Petersdoms. Die Kreuzarme nahmen Form an, und Antonio da Sangallos Arbeiter schalten im Ostarm die Wände ein, um das Gewölbe zu gießen. Die erste Kirche der Christenheit war eine Baustelle, so wie sein Glaube eine Baustelle war – oder besser noch eine Ruine. Der Hochmut der Jahre unter Julius II., mit dem alles möglich und alles beherrschbar schien, hatte die Kirche und seine Gewissheiten ruiniert. Handelte Michelangelo denn als Künstler noch als Gottes Werkzeug, wie er immer gedacht und Giacomo Catalano gegenüber nur allzu selbstsicher behauptet hatte? Oder war er längst des Teufels?
»Wollt Ihr Eure Pietà besuchen, Messèr Michelangelo?«, rief ihm Arnoldo di Maffeo zu. Michelangelo schaute sich um und sah einen jungen Mann vor sich, der mit schwarzen Hosen und einem blauen Wams, aus dessen Kragen die Spitzen eines gelben Hemdes stachen, etwas zu fein für die Baustelle gekleidet war. Mit seinem Kinnbärtchen sah er aus wie ein Cavaliere. Der Künstler blickte den Unbekannten ärgerlich an.
»Was geht’s dich an?«, brummte er und verließ fluchtartig den Ort. Er wollte mit niemandem reden. Lange streifte er ziellos durch Rom, bis er im Rione Colonna vor der Klosterkirche San Silvestro in Capite anhielt. Er betrat die Basilika, in der das Licht einen bedächtigen Tanz aufführte. Er stand wie verzaubert und beobachtete die schwebenden Staubkörnchen, die das Licht reflektierten. Gab es einen anderen Ausdruck für Gottes Liebe als die tanzende Materie in den Energien der Engel? Er erschrak. Vor der Fenestella des Johannes kniete eine Frau. Die Innigkeit ihres geflüsterten Gebets rührte ihn an. Wie lange er sie beobachtete, wusste er nicht. Schließlich erhob sie sich. Als sie ihn sah, musterte sie ihn neugierig.
»Warum habt Ihr nicht mitgebetet, Messèr?«, fragte sie ihn mit sanfter, klangvoller Stimme. Sie war nicht schön, alles an ihr wirkte rund, matronenhaft, ohne aber im Mindesten den Eindruck der Korpulenz aufkommen zu lassen. Und doch war sie schön, auf eine Weise, die ihn verwirrte. Es hatte nichts mehr mit Männern und Frauen und dem ewigen Begehren zu tun. Die Liebe hatte ihren eigenen Körper geschaffen. Ihre Stimme umfing ihn und wiegte ihn in Vertrauen. Deshalb wagte er es und ließ seinem Gefühl freien Lauf. Er wunderte sich, dass ein so misstrauischer Mensch wie er einer Fremden gegenüber bereitwillig seine sorgsam verborgenen Gedanken enthüllte, die so geheim waren, dass er sie bis jetzt nicht einmal sich selbst eingestanden hatte.
»Weil ich nicht mehr beten kann.« Seine Worte erschreckten ihn.
»Ich kenne das. Ihr fragt Euch, zu wem Ihr eigentlich die Hände erhebt.«
»Woher wisst Ihr das?« Michelangelo zog es fort, doch seine Füße waren wie angewurzelt.
»Ist Gott gerecht oder ungerecht? Ist er der liebende, der verzeihende oder der strafende Weltenherrscher? Durch welche Werke erlange ich seine Liebe und die ewige Seligkeit?«
Michelangelo wankte. Sie sprach aus, was er nicht einmal zu denken wagte. »Wer seid Ihr?«
Sie lächelte spöttisch. »Braucht Ihr einen Namen für den Gedanken, eine Adresse?«
Michelangelo schaute verlegen auf seine verfärbten Hände, auf das Blau und das Rot, das Grün und Krokusgelb, das auch die Altarwand bedeckte.
»Habt Ihr Euch in Eurer Pietà nicht bereits selbst die Antwort gegeben, Messèr Michelangelo?«, fragte die Frau.
»Die Liebe?«, fragte er verunsichert.
»Wir glauben, weil er uns liebt, lebten wir nicht aus unseren Verdiensten heraus, sondern aus seiner Gnade. Gott ist kein Händler, sondern ein Schenkender. Es ist an uns, das Geschenk anzunehmen.«
»Ihr meint, auf den Glauben allein kommt es an?«
»Wir müssen ihn endlich wie ein teures Gut schätzen lernen, denn wir gehen nicht gut mit ihm um. Glauben zu können ist auch eine Gnade, ein Geschenk des Allmächtigen.«
Allmählich begriff Michelangelo, was er gemalt hatte. Die Geste der Verdammung hatte noch eine zweite Bedeutung: Sie verwarf auch das falsche Denken, die falsche Vorstellung vom Glauben. Die Unruhe in den Heiligen und den Märtyrern, die fast verzweifelt ihre Werke vorzeigten, die Zeugnisse ihrer Qualen, die sie für den Glauben auf sich genommen hatten, entstand deshalb, weil Christus sie verwarf. Er blieb auch im Himmel der Prediger in der Wüste. Es war, als sagte er: »Kommt mir nicht mit dem, was ihr um meinetwillen gelitten habt, kommt mir mit eurem reinen, mit eurem kindlichen Glauben. Das genügt. Es ist wenig und doch so viel.«
»Ich bin Vittoria Colonna«, unterbrach sie den Sturm an Gedanken und Assoziationen, der durch sein Gehirn brauste. Er staunte, denn er hatte schon viel von ihr gehört. »Die Marchesa di Pescara!« er wusste, dass sie eine Dichterin war und der Mittelpunkt eines Kreises von Kirchenfürsten, die den katholischen Glauben reformieren wollten und auf die Wiedervereinigung mit den Protestanten hinarbeiteten. Einflussreiche Männer wie die Kardinäle Morone, Contarini und Pole standen in engem Kontakt mit ihr. Die Theoretiker des Kreises wie Juan de Valdes, Bernardino Orchino oder Pietro Martire Vermigli wurden Spirituali genannt, weil sie einen derart verinnerlichten Glauben lebten, dass es dem der Ketzer im Norden gefährlich nahekam.
Vittoria lächelte ihn mit gütiger Freundlichkeit an. »Ich wohne oben in unserem Palazzo, halte mich aber auch oft hier im Kloster auf, wenn ich meditieren will. Oder in San Silvestro al Quirinale. Kommt mich besuchen, sooft Ihr wollt.« Sie verfügte über eine schriftliche Genehmigung des Papstes, dank der sie in den Klöstern übernachten durfte, auch wenn sie nicht zur Nonne geweiht war.
Michelangelo verneigte sich vor der Marchesa. Nachdem sie die Kirche verlassen hatte, kniete er nieder und dankte Gott für die Erleuchtung, für die Frau, die er ihm gesandt hatte.