»Es ist ganz einfach, Arnoldo. Niemand weiß, wie lange ich noch lebe. Wir alle aber sind uns doch im Klaren darüber, dass der Bau sich noch ein Weilchen hinziehen wird, und er soll ja noch möglichst lange unsere Familien ernähren!«, sagte er schmunzelnd. »Als Donato starb, hatte ich keine Vorstellung davon, wie es weitergehen sollte. Ihr alle aber könnt nach meinem Tod immer wieder im Modell Belehrung finden, was als Nächstes zu errichten ist und in welcher Art.« Antonio strahlte über das ganze Gesicht, und die kindliche Freude stand in einem seltsamen Gegensatz zu seinem inzwischen ergrauten Haar. »Der Petersdom ist fertig, ihr müsst ihn nur noch Stück für Stück im größeren Maßstab umsetzen – aber hübsch bedächtig.«
Dass selbst der glaubensstrenge Kardinal Carafa das Modell lobte, freute Antonio. Der Neapolitaner kam erst gar nicht darauf, Kritik am Zentralbau zu äußern, denn der gotisch wirkende Vorbau mit den Kathedraltürmen trieb dem nüchternen Kirchenfürsten fast die Tränen der Rührung in die Augen.
»Ja!«, rief Carafa, als er vor dem Modell stand. »Genau so muss unsere Kirche wieder werden: stolz und streng zu Gott in die Höhe strebend!«
Antonio befand sich auf dem Höhepunkt seines Lebens. Die größte Baustelle der Christenheit barg keine Risiken und Schwierigkeiten mehr. Er hatte es geschafft, alles vorauszuplanen; Stein für Stein, Mauer für Mauer wurde nach seinen Plänen gesetzt. Wie ein Mantel wuchs Umgang für Umgang um die Apsiden der Kreuzarme.
Rom, Anno Domini 1542, im Frühjahr
Die Mandelbäume spendeten an diesem sonnendurchfluteten Nachmittag ein wenig Schatten, und die kleinen Brunnen im Klostergarten von San Silvestro al Quirinale schenkten Kühlung. Die kleine Gesellschaft hatte sich auf dem Rasen unter dem grünen Dach der kleinen Bäume niedergelassen und wirkte wie ein Kreis junger und vertrauter Gefährten. Dabei trennten sie Jahre von der süßen Zeit der Jugend, denn mit seinen zweiundvierzig Jahren war der Jüngste in der Runde der englische Kardinal Reginald Pole. In seiner Heimat erwarteten ihn Tod und Folter, seit sein Cousin, König Heinrich VIII., das brünstige Schwein, seine Mutter, Margarete Pole, die achte Countess of Salisbury, knapp ein Jahr zuvor hatte hinrichten lassen.
Auf einem weißen Leinentuch standen ein Korb mit Brot, ein paar Gläser und eine Karaffe mit verdünntem Weißwein. An diesem heiteren Sommernachmittag dachte niemand an Drangsal und Verfolgung. Die Gesellschaft schwelgte im Nachdenken über die Liebe Gottes. Sie beugten sich über eine Skizze Michelangelos mit einer Pietà, die sie begeisterte, weil sie in menschlicher Weise vom Leiden und gleichzeitig von der Überwindung irdischer Pein sprach. Und somit vom Erhabensten, was Gott den Menschen geschenkt hatte, dem Geist, der allein fähig war zur wahren Freiheit, frei von den Zumutungen der Mächtigen und den eigenen Eitelkeiten.
Während alle auf den leidenden Gottessohn blickten, der ohne Pathos gesiegt hatte, sagte Michelangelo mit großem Ernst: »Nach meinem Urteil ist diejenige Malerei die vorzüglichste und gleichsam göttlich, die ein Werk des Ewigen am getreuesten nachbildet, sei es seine Menschengestalt, ein fremdländisches wildes Tier, ein einfacher, leicht darzustellender Fisch, einen der Vögel unter dem Himmel. Und das alles weder mit Gold noch mit Silber oder sehr feinen Farben, sondern einzig und allein mit Feder oder Stift gezeichnet oder mit dem Pinsel schwarz-weiß getuscht. Ein jedes dieser Dinge vollkommen in seiner Art nachzuschaffen, bedeutet in meinen Augen nichts Geringeres, als das Schöpfertum des unsterblichen Gottes zu wiederholen.« Er senkte den Kopf und blickte aus den Augenwinkeln zu Vittoria hinüber, deren Einverständnis ihm viel bedeutete. Er konnte beruhigt sein, sie lächelte feinsinnig.
»Und doch muss es unvollkommen bleiben«, warf Contarini ein, während er bedächtig seinen langen Bart streichelte. Weiter kam er nicht mit seiner Überlegung, denn die Aufmerksamkeit aller richtete sich auf einen Mann in einem auffällig neuen Kardinalsmantel, der über die Wiese gelaufen kam. Unruhe, mehr noch Ungemach führte er in seinem Gefolge. Michelangelo musste nur die fast eingefrorene Falte des Unwillens in dem langen Gesicht des noch jungen Kardinals sehen. Er zählte noch keine dreiunddreißig Jahre. Der Schalk, der sonst immer in seinen Augen stand, die der liebe Gott ein wenig schief angeordnet hatte, war verschwunden. Gott konnte sich keinen eindrucksvolleren Boten des Unheils aussuchen als diesen immer zu einem Scherz aufgelegten Sanguiniker.
»Ah, der Doktor Morone«, rief Pole spöttisch, um die schlechte Stimmung zu verscheuchen, die von dem erst vor einem Monat zum Kardinal erhobenen Mann ausging.
»Komm zu uns, Giovanni«, lud ihn Contarini ein. Die Aufforderung war absurd, denn es bestand kein Zweifel, dass Morone hierhergekommen war, um sie zu treffen.
Michelangelo entdeckte sofort die Furcht in den Augen des Kardinals. »Was ist geschehen?«, fragte er.
»Was geschehen ist?«, keuchte Morone. Er musste erst ein paar Mal tief durchatmen, um sich zu beruhigen. »Der Heilige Vater hat die Sacra Congregatio Romanae et universalis Inquisitionis als Kardinalkommission gegründet, an deren Spitze Carafa steht und der alle seine Spießgesellen angehören.«
»Carafa als oberster Glaubenswächter! Das ist, als ob man den Wolf zum Hirten der Schafe einsetzt«, empörte sich Contarini.
»Jetzt haben auch wir einen Heinrich!«, stöhnte Pole.
»Aber warum macht Alessandro das?«, fragte Vittoria Colonna konsterniert, die wie Paul III. aus einem der großen römischen Adelsgeschlechter stammte. Man kannte sich.
»Weil er Angst hat, die Lutheraner würden Italien erobern und die Kirche hinwegfegen«, antwortete Morone.
»Aber wir können uns mit den Protestanten einigen, so viel trennt uns nicht. Im Gegenteil, sie stehen uns in manchem näher als …« Pole machte eine vage Handbewegung, weil er keine Namen nennen wollte.
»Pst, Reginald, sag das nicht zu laut, ab heute sind diese Gedanken lebensgefährlich«, warnte Morone.
»Was sollen wir bloß tun?«, fragte Vittoria und rang die Hände.
Michelangelo wünschte sich sehnlich eine Wand mit nassem Putz oder einen Marmorblock herbei, denn das Gespräch hatte eine ungünstige Wendung genommen. Weder lagen diese Dinge in seinem Interesse, noch konnte er etwas zur Diskussion beisteuern. Er war kein Theologe und auch kein Politiker, nur Künstler – und nicht mehr, aber auch nicht weniger wollte er sein. Im Gegenteil, es gab keinen Beruf, in dem man Gott näherkommen konnte. Was sollten ihm also diese überflüssigen und vor allem zeitraubenden Machtkämpfe?
»Wie dem auch sei, wir müssen vorsichtig sein, sehr vorsichtig. Brandgeruch liegt in der Luft. Carafa will Menschen brennen sehen!«, warnte Contarini.
Michelangelo zog den Umhang fester um die Schultern, weil ihn plötzlich fröstelte. Giovanni Morone trank zwei Gläser verdünnten Weißweins gleich hintereinander. Seine Hand zitterte beim Einschenken, nicht wegen des Alkohols, denn er trank mäßig. »Wir brauchen einen Papst«, verkündete er fest, nachdem er das Glas geleert hatte. Alle schauten ihn verblüfft an. »Paul III. wird die Mitte wahren, aber Carafa darf niemals die Cathedra Petri besteigen. Das wäre unser Ende – und das Ende der Kirche! Nicht mehr ein Ort der Nächstenliebe, sondern des Verhörs und der Folter, nicht mehr ein Quell des Glaubens, sondern ein vergifteter Brunnen der Denunziation! Wie auch immer wir es anstellen, aber der nächste Papst muss aus unseren Reihen kommen!«
Contarini fuhr entsetzt zurück und legte die Handbeuge wie eine Schlinge an seine Kehle. »Ich kann das nicht. Ich bin Theologe!«
Morone musste lächeln. »Von dir erwartet das auch keiner. Ich kann es nicht werden, ich bin zu jung und besitze zu wenige seelsorgerische Meriten. Nein, es gibt nur einen unter uns, der die Autorität und das Format besitzt: Reginald!«