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Vasari eilte zu dem alten Künstler und half ihm auf. »Weil Ihr der Einzige seid, der das kann.«

Auf Vasari gestützt, gelangte Michelangelo nach Hause. Er fühlte sich am Boden zerstört. Nachdem er die Capella Paolina ausgemalt hatte – mit einem alten, zweifelnden Paulus –, wollte er sich von der Welt zurückziehen und Gott suchen, indem er zeichnete und skulptierte. Nichts war ihm willkommener als die Einsamkeit, nichts verhasster als das laute Getriebe der Welt. Um seinen Standort in der Kunst musste er sich nicht mehr sorgen, er hatte genug geschaffen, und Leute wie dieser junge Vasari würden seinen Ruhm verbreiten. Nun brach die Zeit an, in der er sich um seine Stellung in der Ewigkeit zu kümmern, in der er seine Verhältnisse mit Gott zu ordnen hatte. Und dabei konnte ihm Vasari nicht helfen, niemand, außer Vittoria vielleicht.

Oft sprachen sie miteinander, tauschten Briefe und Sonette aus; er schenkte ihr die kleinen Zeichnungen, die ihm immer mehr zum Wichtigsten auf der Welt wurden. Ohne dass er es bemerkte, hatte er sie zu lieben begonnen, tief und innig. Doch der Frühling wollte und wollte nicht kommen. Wie sehnte er ihn herbei, träumte davon, wieder mit ihr im Klostergarten zu sitzen und zu reden. Dann traf ein Bote bei ihm ein, am 25. Februar. Er hatte nur eine kurze Nachricht für ihn. Vittoria Colonna hatte eine Stunde zuvor das Zeitliche gesegnet. Mit einem stummen Aufschrei blickte Michelangelo nach oben, zu Gott, unfähig, etwas zu sagen oder zu denken. Stunden später schrieb er und schrieb, Tinte statt Tränen vergießend, und sein Gesicht war so hart wie Stein und so weich, als hätte er es selbst behauen.

»Als sie, der Grund von meinen Seufzern allen,

der Welt, sich selbst und meinem Blick entschwand,

stand die Natur voll Scham, die sie gesandt,

und wer sie sah, fühlt heiße Tränen fallen.

Doch soll der Tod sich nicht darin gefallen,

dass er der Sonnen Sonne uns entwand;

die Liebe siegte, die sie lebend fand

hier und im Himmel bei den Heil’gen allen.

Der Tod erhoffte ruchlos, dass zunichte

der Ruhm sei, der sie weit und breit umgeben,

dass ihre Seele wen’ger schön erschein’.

Das Gegenteil bewirkten die Gedichte:

Sie ist lebendiger als einst im Leben;

durch Tod ging sie ins ew’ge Leben ein.«

Es war nicht das einzige Gedicht, das er schrieb, um ihren Tod zu verstehen. Er konnte nicht verstummen. Ihm schien, solange er schrieb, blieb sie bei ihm. Mit den ersten warmen Strahlen des Frühlings, den Vittoria herbeigesehnt, aber nicht mehr erlebt hatte, traf aus dem Norden ein Bote mit einem kleinen Paket ein. Der Absender überraschte ihn: Lucrezia da Sangallo. Er gab dem Boten ein so bescheidenes Trinkgeld, dass dieser ihn beim Verlassen des Hauses laut verwünschte. Dann öffnete er das Paket, das zwei Bücher und einen Brief enthielt. Sein Blick fiel auf die schöne, ebenmäßige, weibliche Handschrift. Bei den Nonnen wird sie es gelernt haben, dachte er. Aus einem unbestimmten Grund zweifelte er nicht daran, dass sie ihn eigenhändig geschrieben hatte. Er vertiefte sich in die wenigen Zeilen.

Messèr Michelangelo,

ich musste erfahren, dass Ihr die Nachfolge meines geliebten Mannes in Fabbrica di San Pietro antretet. Ich will die Wahrheit sagen. Mir wäre es lieber gewesen, der Papst hätte meinen Sohn, den hervorragenden Baumeister Bartolomeo da Sangallo, mit der Aufgabe betraut. Allein, es ist anders gekommen.

So bitte ich Euch, handelt nicht wie schlechte Bauleiter und nehmt meiner Familie die Aufträge nicht, sondern findet die Größe, zu achten und zu respektieren, was in den letzten dreißig Jahren unter großen Kämpfen und Aufopferung entstanden ist. Ich hatte das Glück, Donato, den alle Bramante nannten, meinen Vater nennen zu dürfen und den vortrefflichen Antonio da Sangallo meinen Mann. Wisset daher, dass mein ganzes Leben mit diesem Bau verbunden war. Leid und Freude spendete er, Gefahr und Glück.

Nun, ich bin eine alte Frau und genieße jeden Tag, den Gott mir vergönnt, um mich an meinen Enkeln zu erfreuen, und sehne mich doch danach, bald schon meinen Mann im Himmel wiederzusehen. Wie töricht unser Wollen doch ist, wie es doch mit sich selbst im Streit liegt. In der Hoffnung, in Euch einen gerechten Mann und einen würdigen Fortsetzer des Werkes von Donato und Antonio zu finden, sende ich Euch das Buch nebst Übersetzung, das beiden so viel bedeutet hatte.

Florenz, im Frühling 1547

Lucrezia di Imperia da Sangallo

Er las den Brief mehrmals, weil er ihn beeindruckte und nicht losließ. Michelangelo konnte sich nicht erinnern, diese Frau jemals gesehen zu haben. Er blätterte in den beiden Büchern und stellte fest, dass das eine zur Hälfte eine schöne Ausgabe von Dantes »Göttlicher Komödie« war, zum anderen das »Buch der Baumeister«, dessen Übersetzung danebenlag. Aus dem Buch erfuhr Michelangelo von einem alten Geheimbund, dem neben Dante auch sein Lehrer Landino, Angelo Poliziano, Pico della Mirandola und sogar Giovanni de Medici – das dicke Kind, das ihn dadurch überraschte, dass es Papst geworden war – angehört hatten. Immer wieder hatte er mit Mitgliedern der Fedeli d’Amore zu tun gehabt, ohne dass er jemals davon erfuhr. Und auch nicht von der Erzbruderschaft, für die der schöne Kardinal Giacomo Catalano stritt. Von alledem hatte er nichts gewusst, aber das hatte auch keine Bedeutung mehr. Viel wichtiger waren die Dinge, die in dem Buch über die Baukunst standen. Schon die ersten Seiten, die eine Analogie des menschlichen Körpers zur Architektur herstellten, beeindruckten ihn. Das dachte auch er – der Bau des Körpers entsprach der Architektur der Gebäude, der Kirchen und Paläste. Der verrückte Leonardo hatte es gezeichnet. Michelangelo vergaß seinen Kummer, er vergaß zu essen, nahm nur etwas Wein mit Honig zu sich.

Plötzlich durchfuhr ihn eine irrsinnige Ahnung. Nur mit Hemd und Hose bekleidet, eilte er zum Petersdom. Es regnete heftig, doch er spürte kaum die Nässe und den Wind, der über den Ponte Sisto blies. Während er parallel zum Tiber auf der Straße zum Borgo auf die Porta Santo Spirito zuschritt, hatte er die mächtig ragende Vierung im Blick. Der Weg zog sich endlos hin. Für jede Meile, die er zurücklegte, zwängten sich zwischen ihn und das Ziel zwei neue. Fast lief er, es konnte ihm nicht schnell genug gehen. Wenn sich sein Verdacht bestätigte, dann stand er vor dem größten und tragischsten Missverständnis, von dem die Welt je gehört hatte.

Als er sich der Baustelle näherte, erzeugte er dadurch eine ungeheure Betriebsamkeit. Maurer, die zusammenhockten und den Weinkrug kreisen ließen, sprangen wie von der Tarantel gestochen auf und begannen zu schuften. Gesellen rannten los, um ihre abwesenden Meister zu holen. Aber das kümmerte ihn nicht. Nicht um ihretwillen war er hier. Mit schnellen Schritten durchquerte er die Vierung und gelangte in den Westchor, die Capella Julia, wie sie auch genannt wurde, dort, wo einst sein Grabmal für Julius II. stehen sollte, das er nun in einer deutlich reduzierteren Form in San Pietro in Vincoli vor einem Jahr aufgestellt hatte.

Vielleicht, dachte Michelangelo, lag das Geheimnis wirklicher Kunst in der Reduktion, in der Besinnung auf das Wirkliche, das Gott war, die Kraft, die Ursache, nicht den Schein, sondern das Sein? Deshalb liebte er, der riesige Decken, große Wände mit farbgewaltigen Fresken geschmückt hatte, mehr noch sie mit einer Unzahl von Personen bevölkert hatte – allein in seinem »Jüngsten Gericht« wurden von Bewunderern fünfhundertzwanzig Figuren gezählt –, inzwischen die einfache Zeichnung. Die Größe fand sich einzig in der Intensität.

Vor ihm erhob sich das begehbare Modell des Petersdoms, das ihn um das Doppelte überragte und das Antonio da Sangallo in einer Art Ewigkeitsangst in sieben Jahren minutiöser Kleinarbeit detailversessen hatte errichten lassen. Und was war es, dieses Modell? Ein Witz! Der grausame Spott Gottes über einen Mann, der sich zeitlebens redlich bemüht, aber das Wesentliche nicht verstanden hatte. Michelangelo fiel auf die Knie. Die Meister liefen herbei, sie mussten ihren neuen leitenden Architekten für verrückt halten. Obwohl es viel zu kalt dafür war, kauerte er, nur mit Hose und Hemd bekleidet, vor Sangallos Modell und schüttelte immerfort den Kopf. In der Tat hatte Gott nie ätzender und boshafter über einen Menschen gespottet als über den Baumeister Antonio da Sangallo. Bei Bramante, den Michelangelo nicht mochte – der aber ein Genie gewesen war, wie er jetzt eingestand –, hatte Antonio gelernt, sein ganzes Leben hatte er Bramantes Werk fortsetzen wollen und am Petersdom gearbeitet. Und dabei hatte er seinen Lehrmeister nicht verstanden. Es hatte ihm das Organ gefehlt, mit dem er Bramantes Gedanken hätte begreifen können. Er, der ihm im Leben am nächsten gestanden hatte, war ihm im Geist der Fernste geblieben.