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Ein heftiges Schluchzen schüttelte seinen schweren Körper. Giovanni Pico della Mirandola atmete nicht mehr. Bramante konnte es kaum fassen. Lange starrte er reglos auf den Körper. Nur mühsam gelang es ihm, sich von dem Schock zu befreien, in den ihn der Schmerz versetzt hatte. Mit unterdrückter Wut machte er sich an die Untersuchung der Leiche. Zeichen äußerer Gewaltanwendung konnte er nicht feststellen. Eine Krankheit? Oder Gift? Die Farbe des ausgespuckten Mageninhalts ließ ihn zwar Letzteres vermuten, aber er war ja kein Arzt.

Mit aller Zärtlichkeit, die ihm zu Gebote stand, drückte er dem Freund die Augen zu, dann betete er unter Tränen ein Vaterunser. Es fiel ihm nicht leicht, sich an den vollen Wortlaut des Gebets zu erinnern, obwohl sein Gedächtnis gerühmt wurde. Er mühte sich trotzdem, weil er glaubte, es diesem außerordentlichen Manne schuldig zu sein. Es schien, als sei Pico einsam gestorben, ohne einen Menschen, der ihm hätte Trost, ohne einen Priester, der ihm hätte Beistand leisten können. Wie traurig das alles doch war. Ausgerechnet er, den die Menschen geliebt hatten, war verreckt wie ein Hund!

Nach einer Weile wischte sich der Architekt die Tränen ab und stand auf, um einen Arzt zu holen. Es dauerte lange, bis er einen Mann gefunden hatte, den er schließlich dank einer Mischung aus Geld und handfesten Drohungen überzeugen konnte, ihn zu Picos Haus zu begleiten.

Während der Arzt den Toten untersuchte, inspizierte Bramante den Schreibtisch des Grafen. Ein wehmütiges Lächeln flog über sein Gesicht, als er eine kleine Zeichnung fand. Sie zeigt Pico als König Salomo und ihn selbst als dessen Baumeister Hiram. Er hatte sie ein Jahr zuvor für den Grafen angefertigt. Schmunzelnd hatte Giovan damals das Bild entgegengenommen und aus der Bibel zitiert: »Und Salomo sandte zu Hiram und ließ ihm sagen: Du weißt, dass mein Vater David nicht ein Haus bauen konnte dem Namen des Herrn, seines Gottes, um des Krieges willen, der um ihn her war … Siehe, so hab ich gedacht, dem Namen des Herrn, meines Gottes, ein Haus zu bauen, wie der Herr zu meinem Vater David gesagt hat: Dein Sohn, den ich an deiner statt auf deinen Thron setzen werde, der soll meinem Namen das Haus bauen.« Dann hatte er gutmütig und auch ein wenig spöttisch gelacht.

Bramante waren die Worte nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Sein Blick wurde von einem Kupferstich angezogen, einer Darstellung Jerusalems mit einem runden Tempel, der eine Kuppel trug.

»Messèr!«, rief der Arzt. »Den hatte der Tote in der Hand.« Er hielt Bramante einen goldenen Ring hin, auf dem ein kleiner, ebenfalls goldener Aufsatz saß, den ein schwarzer Stein abschloss. Fasziniert hielt der Architekt den Ring ins Licht und entdeckte ein Monogramm. Geschickt, wie er war, fand er einen versteckten Miniaturmechanismus, mit dem er den Aufsatz öffnen konnte.

Das winzige Behältnis enthielt ein Zettelchen. Bramante nahm es heraus und faltete es so vorsichtig, wie es seine großen Hände zuließen, auseinander. Winzige Zeichen wimmelten auf dem Papier, die der Architekt nicht zu erkennen, geschweige denn zu entziffern vermochte. Da er wusste, dass Pico die Kabbala im Original studiert hatte, nahm er an, dass es sich bei den Zeichen um Hebräisch handelte. Aber mit bloßem Auge konnte er die Gebilde auf dem Pergamentfetzen nicht unterscheiden. Und sein hilfreicher Beryll lag zu Hause auf dem Schreibtisch. Da lag er gut, fluchte er leise. Allerdings hatte er nicht ahnen können, dass er ihn hier benötigen würde.

Bramante legte das Pergamentchen in sein Gehäuse zurück, verschloss die Kammer und nahm den Ring an sich. Er wollte sich später damit beschäftigen. Nachdenklich murmelte er: »Das Sterben hat mit Angelo Poliziano begonnen, jetzt Giovan, und dabei wird es nicht bleiben!«

»Wie bitte?«, fragte der Arzt.

Der Architekt musterte den Arzt mit leerem Blick. Nach einer Weile besann er sich und brummte: »Woran ist er gestorben?«

»Ein Fieber oder …«

»Oder?«

»Gift.«

»Meiner Treu, also doch!«

»Nicht unbedingt.«

»Könnt Ihr die genaue Todesursache nicht herausfinden?«

»Zu anderen Zeiten vielleicht, jetzt nicht. Guter Mann, die Franzosen sind in der Stadt. Und Frà Savonarola, der jetzt das Sagen hat und unter ihrem Schutz steht, verbietet das Öffnen von Leichen.«

Dann erging sich der Arzt in mannigfaltigen, von Latein durchsetzten Erläuterungen. Bramante verstand nur so viel, dass er wohl niemanden finden würde, der eine Leichenöffnung zur Feststellung der Todesursache vornehmen würde. In dieser einst so stolzen Stadt schienen sich alle vor dem finsteren Prediger Savonarola zu fürchten. Und nannten das Freiheit. Vom Joch der Medici befreit, hatten sie sich in die Tyrannei des Tugendboldes geflüchtet. Die Menschen konnten mit Freiheit nichts anfangen, sinnierte Bramante düster. Dann schob er seine trüben Gedanken beiseite und richtete seine Aufmerksamkeit auf das Nächstliegende. »Wie kann ich für seine Beerdigung sorgen?«

»Geht zu Federico, dem Tischler. Er wohnt in Santa Croce, gegenüber der Franziskanerkirche. Er kennt alle Priester und alle Friedhöfe. Wenn Euch jemand helfen kann, dann er. Grüßt ihn von mir. Und geizt nicht mit der Bezahlung, wenn Ihr es würdig und pietätvoll wünscht, denn Euren Geiz würde der Tote büßen.«

Als Bramante auf die Straße trat, um den Beerdigungsunternehmer aufzusuchen, stellte er fest, dass es regnete. Doch es war nicht das nasskalte Wetter, das ihn schaudern und unwillkürlich die Schultern hochziehen ließ, sondern der Frost, der sich in seinem Innern ausbreitete. Plötzlich stieg Angst in ihm hoch, Angst, ebenso einsam zu sterben wie sein Freund Pico, der Liebling der Götter und der Frauen. Die Götter waren untreu. Und die Frauen? Wenn er Näheres über den Tod des Grafen erfahren wollte, musste er den Sekretär finden. Der aber schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

Giacomo il Catalano, der zwei Jahre lang in der Maske des Sekretärs Sebastiano für Pico tätig gewesen war, hatte die Stadt gerade hinter sich gelassen, als er den Verlust seines Ringes bemerkte. Rasch wendete er das Pferd und galoppierte zurück. Doch er kam zu spät. Untätig musste er mit ansehen, wie ein stattlicher, grimmig blickender Mann mit wenig Haupthaar, mit dem im Handgemenge sicher nicht zu spaßen wäre, mit einem Arzt das Haus des Grafen betrat. Giacomo wartete ungeduldig. Weshalb hielten sich die beiden Männer so lange in dem Haus auf? Sollte es ihnen etwa gelungen sein, Picos Leben zu retten? Giacomo machte sich Vorwürfe, dass er nicht den Tod seines Opfers abgewartet hatte. Da er den Grund für die Nachlässigkeit kannte, ärgerte er sich nur umso mehr über seinen Fehler. Zum ersten Mal hatten ihm banale Gefühle die Ausführung eines Auftrages erschwert.

Als der Fremde und der Arzt nach geraumer Zeit endlich wieder aus dem Haus traten und sich im Nieselregen verloren, schlich er sich klopfenden Herzens noch einmal ins studiolo. Den Grafen fand er Gott sei Dank tot vor, was ihn der unangenehmen Pflicht enthob, letzte Hand anzulegen. Doch so seltsam es schien, es war ihm unangenehm, sich mit der Leiche des Ketzers in einem Zimmer zu befinden. Aber es half nichts, er musste den Ring finden. Er befühlte die Kleidung des Toten, suchte auf dem Boden und durchwühlte den Schreibtisch. Den Ring entdeckte er nirgends. Er wagte es kaum zu denken, aber es kam keine andere Lösung in Betracht als die, dass der Fremde den Ring an sich genommen hatte!

Im gleichen Augenblick, in dem ihn dieser Verdacht durchfuhr, drang der Klang von Schritten und Stimmen an sein Ohr. Er saß in der Falle und ärgerte sich, weil er als Sekretär des Grafen außer einem kleinen Messer keine Waffen bei sich führte. Er kannte das Zimmer zu gut, um nach einem Versteck zu suchen – es gab keines. Nur den Tisch, Stühle, Regale und den schwarzen Schrank, der vollgestopft war mit seltenen Handschriften und Schreibutensilien wie Federn, Tinte und Pergamentbögen.