»Oh Antonio, Antonio, Antonio«, rief Michelangelo in einer Mischung aus Mitleid und Bitternis kopfschüttelnd aus. »Armer Antonio! Wie konntest du das Offensichtliche nur übersehen?«
»Was ist hier los?«, brüllte Arnoldo di Maffeo, der, von seinem Gesellen benachrichtigt, herbeigeeilt war. In feinste Stoffe gehüllt, fuhr er den wie ein Bettler gewandeten leitenden Architekten von Sankt Peter an. Michelangelo erhob sich, dann wandte er sich Arnoldo zu und schüttelte fassungslos den Kopf über das Ausmaß an Dilettantismus, das sich ihm enthüllte.
»Seht Ihr es nicht? Schafft diesen ganzen aus Holz gebastelten Unfug heraus, diese lächerliche Kinderei!«
Arnoldos Adern traten an den Schläfen hervor. »Seht Euch vor, Maestro. Was Ihr Kinderei nennt, ist das Modell, nach dem wir das Haus Gottes bauen!«
Michelangelo schüttelte sich vor Lachen. »Das Haus Gottes, Messèr Kleiderständer, ist ein Bordell, eine ältliche Hure, die sich aufwendig drapiert hat und hofft, noch einen zahlenden Galan zu finden.«
»Was erlaubt Ihr Euch?«, rief Arnoldo außer sich.
»Schaut es Euch doch an! Unmassen von Stein, die aufeinandersitzen und neuen Stein gebären. Überall dunkle Gänge und finstere Ecken, wo man eher der fleischlichen Lust frönt als Andacht hält! Aber reden wir nicht vom Inneren, von außen sehen wir ein Elementchen und noch ein Elementchen, die in der Sehnsucht nach Struktur nur Chaos schaffen. Was Ihr da habt, ist, um es mit einem Wort zu sagen, Herr Maurer, viele Federn, aber kein Vogel. Was sollen diese dämlichen Türme hier vorn, diese lächerliche Entschuldigung für den Zentralbau und dieser schlaffe Penis, der quer liegt wie in der Hose, der Riegel, der die beiden Türmchen verbinden soll? Es ist Gestaltung, aber nicht Gestalt. Und wisst Ihr, was das Schlimmste ist: Es ist Fleiß ohne Idee. Daran geht unsere Welt zugrunde, an den vielen Fleißigen, die skrupellos sind, weil sie zu dumm sind, Skrupel zu empfinden, die es nur gibt, weil sie eine Familie, eine Bande, eine Sekte, ja eine Sekte, Sangallos Sekte bilden. Ihr seid alle entlassen!«
Finster fixierte ihn Arnoldo, dann erklärte er mit drohendem Unterton: »Seht Euch vor, Messèr Michelangelo. Das Modell, das Ihr schmäht, ist eine fette Wiese, auf der wir alle weiden können.«
»Oh ja, das stimmt, eine fette Weide für Ochsen und Schafe, die nichts vom Bauen und nichts von der Kunst verstehen! Aber ich werde sie von diesen Weiden und aus dem Tempel vertreiben!«, schrie Michelangelo.
Nicht wenige, die diesen eher kleinen Mann mit den flammenden Augen in seiner dürftigen Kleidung sahen, erschraken. Er erschien ihnen wie ein alttestamentarischer Prophet oder ein Bußprediger.
Als er im »Buch der Baumeister« gelesen hatte, hatte Michelangelo verstanden, was Bramantes Grundidee gewesen war. Nichts Kleinteiliges, nichts Zusammengesetztes – große, klare Formen hatte der erste Architekt von Sankt Peter damals angestrebt. Eine Vierung wie die Säulen der Erde und eine Kuppel, die dem Himmel glich – der Rest war Beiwerk. Und dieser unselige Sangallo hatte das Beiwerk zur Hauptsache erhoben und sich vollkommen in den Nebensächlichkeiten verloren. Es war ganz einfach, man musste nur zu Bramantes Idee zurückkehren. Jedes Kind konnte das, dachte Michelangelo wütend. Er hatte Bramante immer gehasst, und er würde auch seine Meinung über ihn nicht ändern, aber er erkannte den ebenbürtigen Geist.
Trauer und Zorn überkamen ihn, weil Bramante ihn nie eingeweiht hatte in die Fedeli d’Amore. Sie mochten sich gehasst und bekämpft haben, mit all dem Neid und der Hinterhältigkeit, zu der Künstler fähig waren, aber eines hatte sie verbunden und zu Gefährten gemacht: die Liebe zu ihrem Handwerk und der Geist der Kunst, der sich über dem Handwerk erhob. Vor vierunddreißig Jahren war Bramante gestorben, und dennoch fühlte sich Michelangelo von seinem jugendfrischen Geist umweht. Niemand hatte Bramante verstanden in den vielen Jahren, die seit seinem Tod vergangen war. Niemand außer ihm, Michelangelo. In diesem Moment wurde die Baustelle zu seiner Baustelle, in diesem Moment begriff er die Aufgabe als eine ihm von Gott gestellte. Wieder kamen ihm Contessinas Abschiedsworte in den Sinn: »Wenn du einmal Baumeister werden solltest, Michelangelo, dann schaff sie für mich, die Kuppel des Himmels. Als Erinnerung an unsere Liebe.«
57
Rom, Anno Domini 1547
Gian Pietro Carafa klopfte freudig das Herz im Leib, denn er hatte endlich Beweise in der Hand. Ein Priester aus Morones Diözese hatte sich selbst der Inquisition ausgeliefert und von geheimen Zusammenkünften von Ordensleuten und Priestern in Modena und Lucca gesprochen, die der Kardinal Morone deckte. Das musste er umgehend dem Papst berichten!
Er traf Paul III. in der Capella Paolina an. In Gedanken versunken stand der Papst vor Michelangelos Bild, das die Bekehrung des Saulus zeigte.
»Es stimmt nicht«, rief Carafa, während er auf ihn zueilte. »Paulus war viel jünger, als er das Damaskuserlebnis hatte!« Paul III. wandte sich ihm zu.
»Ach, Gian Pietro. Darum geht es doch gar nicht! Ist es nicht schön zu sehen, dass auch ein alter Mann noch umkehren und seine Irrtümer erkennen kann? Es stimmt mich fröhlich, und weißt du auch, warum?« Der Papst sah seinen Großinquisitor schmunzelnd an und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Es zeigt, dass diese wunderbare Maschine bis zum Ende funktioniert. Wir sind nicht dazu verdammt, dass uns der Altersschwachsinn überkommt. Bis zum Ende vermögen wir Gottes Willen zu erkunden. Bis zum Ende, Gian Pietro.«
»Heiliger Vater, ich habe hier das Geständnis eines Ketzers, dass sich die Lutheraner in Morones Diözese unter seinem Schutz zusammenrotten!«
Der Papst maß seinen Mitarbeiter mit einem langen Blick. »Wir danken dir, Gian Pietro. Du bist ein braver Soldat Christi. Verhafte die Häretiker, und wer sich nicht bekehren will oder sich schon einmal bekehrt hat und rückfällig geworden ist, den verbrenne! Aber, Gian Pietro, Giovanni Morone rührst du nicht an! Er ist ein gottesfürchtiger Mann.« Er wies mit den Augen auf Saulus, der zum Paulus wurde. »Er ist auf dem gefährlichen Weg der Wahrheit. Ihm kann Erleuchtung zuteilwerden. Also versündige dich nicht!«
Kardinal Carafa erkannte, dass er sich trotz allem nicht umsonst gefreut hatte: Er durfte mit Feuer und Schwert gegen die Ketzerei in Lucca und Modena vorgehen, und Morone durfte ihn nicht daran hindern. Auch wenn der Papst seinen verhassten Amtskollegen noch schützte, kam er doch viel näher an ihn heran. Eines Tages, ja eines Tages … Ein Lärm, der vom Eingang herkam, riss ihn aus seinen Gedanken.
»Was ist da los?«, fragte der Pontifex stirnrunzelnd. Der Kammerdiener erschien und meldete ihm, dass der Maler Michelangelo ihn sprechen wolle und sich nicht abweisen lasse. Mit einem Wink bedeutete Paul III., den Künstler hereinzubitten. Kardinal Carafa blickte den Stellvertreter Christi forschend an, konnte aber keine Regung in dessen Gesicht entdecken.