Jeden Morgen, den Gott werden ließ, ob die Sonne schien, ob es regnete, ob es schneite, holte Francesco den alten Esel aus dem Stall. Michelangelo saß auf und ritt langsam los, über den Ponte Sisto und die lange Straße von Trastevere bis zum Borgo, die Flanke seiner Baustelle im Auge. So langsam, wie der Esel dahertrottete, und so müde, wie er selbst war, benötigte er eine Stunde vom Macello dei Corvi bis zum Petersdom. Aber seine Ausdauer lohnte sich. Er stellte den Südarm fertig, der Nordarm kam voran und die Grundmauern des Westarmes wuchsen. Die Sockelringe für den Tambour waren angebracht, und endlich, endlich konnte er mit dem Tambour selbst beginnen, auf den er dann die Kuppel aufmauern und wölben lassen wollte.
An manchen Tagen kehrte Michelangelo schon nachmittags nach Hause zurück. Dann arbeitete er bis in die späten Nachtstunden an einer neuen Plastik, die ihn selbst als Nikodemus darstellte, der den toten Christus hielt, oder an einer Zeichnung. Oft las er noch in Dantes »Göttlicher Komödie« oder in der Bibel und schlief dann einen kurzen, aber bilderreichen Schlaf. Häufig träumte er davon, wie er in jugendlicher Erscheinung die Kuppel wölbte und endlich das Oculus als oberen Abschluss der sich konkav untenhin verbreitenden Kuppel setzte. Dazu las ihm die junge Contessina Dantes Worte aus dem »Paradies« vor:
»So mahnt mich mein Gedächtnis dran, dass ich
das gleich tat, und blickte in die Augen,
aus denen Amor mir die Schlinge drehte.
Als ich mich wandte, traf die meinen schon
das alles, was in jenem Kreis erscheint,
wenn immer man’s mit scharfem Blick betrachtet.
Da sah ich einen Punkt, der Licht verstrahlte;
wenn er das Auge trifft, muss es sich schließen,
so stark erschüttert es des Glanzes Macht.
Und welcher Stern auch hier am kleinsten scheint,
es wäre wie ein Mond ihm beigestellt,
so wie am Himmel Stern steht neben Stern.
So weit wohl wie der Lichthof, der umgürtet
den Stern, der ihn mit Farben übergießt
dann, wenn der Dunst um ihn am dichtesten,
So weit entfernt umkreist’ ein Feuerkranz
den Punkt so rasch, dass er noch übertraf
den schnellsten Kreis, von dem die Welt umschlungen,
Und diesen Kreis umschloss ein andrer noch,
diesen ein dritter, vierter und ein fünfter,
ein sechster folgt’ noch auf den fünften
… wie die Reife der Wölbung dachte er, ihr Gerippe …
Darüber folgt’ der siebte, schon so breit
in seiner Weite, dass der Juno Bote,
selbst wenn er voll, ihn nicht mehr fassen könnte.
Dann noch der achte und der neunte, und ein jeder
bewegt sich zögernder, je ob dem Lichtpunkt
er näher oder ferner sich befand.
Und jener strahlte mit der hellsten Flamme,
der ganz zunächst dem reinen Lichtpunkt war,
wohl, dass aus ihm er tiefste Wahrheit schöpfte.
Und meine Herrin, die mich sah im Zweifel
ganz tief versunken, sprach: ›Von jenem Punkt
hängt ab der Himmel und die ganze Schöpfung …‹«
Oft erwachte Michelangelo mit den Worten, die Contessina am Ende seines Traumes sprach: »Von jenem Punkt hängt ab der Himmel und die ganze Schöpfung.«
Rom, Anno Domini 1559
In diesen Tagen begann Papst Paul IV., sein Vermächtnis für den Glaubenskampf zu ordnen. Persönlich nahm er sich der Erziehung seines Patenkindes Isabella an, der Tochter von Bartolomeo da Sangallo und Esmeralda di Maffeo, die im Kloster San Silvestro in Capite ihre Ausbildung erhielt. Er unterwies sie persönlich im rechten Glauben. In seinen letzten Tagen zog er noch Giulio Antonio Santorio in die Inquisition, einen jungen Priester, der sich in Neapel vor den Lutheranern hatte verstecken müssen und diese deshalb hasste. In dem fanatischen jungen Mann erkannte er sich selbst wieder. Sein Ziehkind Isabella machte er beizeiten mit dem jungen Priester bekannt.
Der Tod des Papstes am 18. August 1559 rettete Giovanni Kardinal Morone das Leben und brachte einen venezianischen Medici an die Macht, der sich Pius IV. nannte und Michelangelo wieder die alte Liebe angedeihen ließ, die der Künstler von den Päpsten gewohnt war. Und der alte Künstler konzentrierte seine gesamte Energie in einem Ziel, die Kuppel des Himmels zu vollenden. Mochten nach ihm andere das Bauwerk fertigstellen, daran lag ihm in Ansehung seines hohen Alters nicht mehr, einzig die Kuppel wollte er als letztes Werk der Nachwelt hinterlassen. Für Contessina, für Vittoria, für Gott und für sich, für seinen Seelenfrieden.
58
Rom, Anno Domini 1564, im Februar
Michelangelo war nicht bei Besinnung. Nachdem ihn einer der Schergen des Inquisitors Giulio Antonio Santori im Petersdom niedergestochen hatte, strömte das Leben aus ihm heraus. Giorgio Vasari und Daniele da Volterra wuschen die Stichwunde und schickten den alten Francesco zu dem Arzt Isaac di Bonet de Lates. Er war zwar ein Jude, doch der Sohn des berühmten Bonet de Lates und ein Kenner des menschlichen Körpers, wie Gott keinen zweiten auf die Erde gesandt hatte.
Nachdem Isaac Michelangelo untersucht hatte, schickte er Francesco mit einer Liste, auf der Kräuter, Salben und Tinkturen aufgeführt waren, zu seiner Tochter. Dann trat er mit den beiden Männern auf den Flur und schloss die Tür hinter sich. Mit der rechten Hand fuhr er sich durch seinen langen grauen Bart. Die Furchen auf seiner Stirn vertieften sich, und in seinen Augen stand Betroffenheit.
»Große Hoffnung kann ich euch nicht machen. Er hat zu viel Blut verloren. Auch glaube ich, dass die inneren Verletzungen erheblich sind. Wäre er ein Jude, würde ich jetzt das Kaddisch beten.« Isaac hatte aufgehört, sich durch den Bart zu streichen, und blickte zu Boden. Vasari sah ihm an, dass er mit der Endlichkeit seiner Kunst haderte.
»Wo seid ihr? Kommt zu mir! Kommt!«, rief Michelangelo mit schwacher Stimme, die sich immer noch um einen energischen Ton bemühte. Die beiden Männer eilten ins Zimmer. »Macht nicht so ein Gesicht. Ich weiß, dass es so weit ist. Daniele, mein lieber Freund, hol den Kardinal, und du, Giorgino, setz dich her zu mir.«
Beide wussten sie, dass mit dem Kardinal Giovanni Morone gemeint war, der Held des Konzils von Trient und ein enger Freund Michelangelos. Sieben Jahre zuvor hatte diese Freundschaft den Künstler in ernsthafte Gefahr gebracht, als Papst Paul IV. Giovanni Morone in der Engelsburg einkerkern ließ und seinen Tod wünschte. Nur das Ableben des Papstes hatte Morone damals gerettet. Daniele eilte aus dem Zimmer, während Vasari sich auf das Bett des Göttlichen setzte. Michelangelo griff nach seiner Hand.
»Narren sind schon eine Plage, aber wenn sie an Gott glauben, dann werden sie zur Pest! Jetzt hindern sie mich doch noch daran, den Dom zu Seinem Ruhme zu vollenden. Höre, mein Freund, erst wenn die Kuppel des Himmels gesetzt ist, ist das Wesentliche vollbracht. Schwöre, dass du das Werk vollenden wirst! Schwöre es! Sonst finde ich keine Ruhe!«
»Aber Ihr habt doch so viel geschaffen! So viel, wie es niemandem vor Euch geglückt ist und wie es niemandem mehr nach Euch vergönnt sein wird. Warum quält Ihr Euch so?«