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»Weil die Kuppel des Himmels meine Sühne ist. Das, womit ich Gott für meine Sünden vor dem Jüngsten Gericht um Verzeihung bitte. Giorgino, meine ganze Seligkeit liegt nun in deiner Hand. Nur du kannst mich vor der ewigen Verdammnis bewahren! Ich hatte es doch Gott geschworen – und nun werde ich meinen Eid nicht mehr erfüllen können, wenn du es nicht an meiner Stelle tust …« Der Schmerz nahm ihm fast die Stimme und trieb ihm die Tränen in die Augen. »Meine Sünden, oh, meine Sünden …«

»Aber wo habt Ihr gesündigt, Maestro?«

»Was weißt du schon, Giorgino? Der da oben weiß es, und ich weiß es. Messèr Dante hat beschrieben, was die armen Sünder zu leiden haben, die der alte Feind in den Kreisen der Hölle schindet.« Michelangelo schloss kurz die Augen. Dann versuchte er, sich noch einmal aufzurichten, doch er war schon zu schwach dafür. Einen Moment lang kämpfte er gegen die Schwerkraft des Todes an, bevor er aufgab und sich wieder auf das Bett sinken ließ.

»Erfülle meinen Eid, Giorgino. Tu es für mein Seelenheil! Ich flehe dich an!« Die nur noch gehauchten Worte riefen Vasari die vor unsäglichem Schrecken weit aufgerissenen Augen der armen Seelen ins Gedächtnis, die der Weltenrichter zur ewigen Qual in der Unterwelt verurteilt hatte. Er sah Michelangelos Fresko des Jüngsten Gerichts vor sich, das der Göttliche an die Altarwand der Sixtinischen Kapelle gemalt hatte. Wie die Menschen hofften und einige von ihnen auch kämpften, doch noch in die Seligkeit vordringen zu können, aber von Dämonen, die an ihren Beinen zogen, ihre Knie umklammerten, in die Waden bissen, daran gehindert wurden. Und damit nicht genug: Die Teufel zogen sie in die Tiefe, von oben traten die Engel nach ihnen und trommelten mit den Fäusten auf ihre Köpfe, um ihnen den Weg in den Himmel zu verwehren. Eine wilder, doch vergeblicher Kampf um die Erlösung. Der göttliche Richterspruch lautete: Sie waren verdammt! Christus hatte sie zur ewigen Pein verurteilt.

Der furchtsame Gesichtsausdruck des sterbenden Künstlers erinnerte Vasari an den heiligen Bartholomäus, der seine abgezogene Haut in den Händen hielt. Auf der Gesichtshaut hatte Michelangelo die Züge eines leidenden Menschen verewigt, nämlich seine eigenen. Das war alles, was dereinst von ihm bleiben würde: seine Angst. Erst in diesem Moment verstand Vasari das ganze Ausmaß der Furcht, die der Göttliche damals auf die Altarwand gemalt, die ihn gejagt und gehetzt hatte. Er erschrak, denn er musste Santori recht geben: Das war Ketzerei! In der Sixtinischen Kapelle, in der die Päpste gewählt und der Heilige Vater Hochämter abhielt, hatte Michelangelo ein Fresko geschaffen, das von der Verdammnis der Menschen, von ihren Ängsten und ihren Leiden und von der Grausamkeit der Engel und der Kälte der Heiligen sprach. Nächstenliebe suchte man in ihren selbstgerechten Mienen vergebens. Sie verwiesen wie Krämer auf ihre Verdienste und kümmerten sich nicht um die Menschen. Es ging ihnen einzig um den Nachweis der eigenen Heiligkeit. Selbst vor dem Weltenrichter war sich jeder selbst der Nächste. In seinen Gedanken versuchte Vasari, die ganze Botschaft des Bildes zu erfassen. Aus seiner Erinnerung tauchte das Bild jenes jungen Mannes auf dem Fresko auf, dem die Posaunen des Jüngsten Gerichtes fast ins Ohr bliesen und den gleich zwei Teufel, seine Knie und Füße umfassend, in die Tiefe rissen, während ein grüner, gelbgesichtiger Dämon in seinen Oberschenkel biss. Der arme Kerl hatte vor Grauen die Schultern zusammengezogen, seine rechte Hand griff zur linken Schulter. Den linken Unterarm hatte er angewinkelt und hielt die Hand vor das linke Auge, um es vor dem zu schützen, was er zu sehen bekommen würde. Sein rechtes Auge starrte schreckgeweitet auf das Unfassbare, unfähig, sich davon zu lösen.

Dieser junge Mann sah voraus, was ihn erwartete, er war ganz von der Angst erfasst, wie Michelangelo selbst, da es ans Sterben ging. Vasari wusste, wer dieser Junge war. Francesco hatte ihm erzählt, was sich einst in den Steinbrüchen von Carrara abgespielt hatte. Genauso hatte der Junge, in Reue erstarrt, auf einem Felsvorsprung gestanden, bevor ihn ein anderer Bursche, im gleichen Alter und vormals sein bester Freund, aus Rache für seine geschändete Schwester getötet hatte.

Konnten die Menschen denn nicht leben, ohne schuldig zu werden?, dachte Vasari. Ein ewiger Kreislauf von Verbrechen und Strafen, von der ersten Sünde, der Erbsünde, in Gang gesetzt. Und nur Gnade, sagten die Ketzer und sagte auch Michelangelo, konnte den Menschen aus dem ewigen Reigen des Verbrechens erlösen. Keine Verdienste, keine Werke, nur Gnade allein. Wie konnte Vasari anders, als seinem Meister zu antworten: »Ich werde tun, was in meiner Macht steht«?

»Mehr, tu mehr! Wenn du mich je geliebt hast, Giorgino …«, flehte Michelangelo und hielt Vasaris Hand umklammert. Mitten im Satz verstummte er, sein Griff lockerte sich, und seine Augen richteten sich auf einen Punkt hinter Vasari. Dieser wandte sich um und entdeckte auf dem Fenstersims einen kleinen Vogel. Unaufhaltsam atmete Michelangelo das Leben aus. Als sich seine Lippen bewegten, beugte sich Vasari zu ihm und hielt sein Ohr ganz nah an den Mund des Meisters.

»Gib mir ein Blatt Papier, Giorgino, rasch, und einen Stift«, flüsterte Michelangelo. »Ich will die Unschuld malen. Bei keinem Menschen, nicht einmal bei der Jungfrau Maria oder bei unserem Herrn …« Er stöhnte auf. Dann fuhr er leise und stockend fort: »Nicht einmal bei Gott ist es mir gelungen, den Ausdruck der Unschuld zu treffen, obwohl ich es so oft versucht habe. In Colonnata hätte es gelingen können … die Tochter von Fritz il Rosso … sie wollte nicht. Aber sie war die Unschuld, eine befleckte vielleicht, aber rein … Beeil dich, ich kann es … das erste Mal in meinem Leben …« Der Vogel am Fenster flatterte plötzlich auf. »Stell die Kirche fertig … mit der Kuppel des Himmels, dann wird meine Seele Ruhe finden …« Michelangelo zog seine Hand aus der Vasaris. Dann ballte er seine Hände zu Fäusten, und seine Miene zeigte noch einmal eine schmerzliche Anspannung. Tränen rannen über sein faltiges Gesicht, das in der Furcht geradezu kindlich wirkte. Er sah aus wie ein Knabe, der Angst hat vor der finsteren Hölle oder dem dunklen Keller oder einem großen Hund. »Verzeih mir! Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa, verzeih deinem armseligen Knecht!«, rief er mit letzter Kraft. Dann war er tot, der Meister war tot. Man schrieb den 18. Februar 1564.

Vasari wusste nicht, wie lange er wie betäubt am Bett des Göttlichen verharrt hatte. Für ihn hatte Michelangelos große Seele sich Gott empfohlen und auf Erden nur Finsternis hinterlassen. Ob ihn Dante am Himmelstor empfangen und freundlich zu ihm sagen würde: »Komm Michelangelo, komm, mein Lieber, der Herr erwartet dich. Es ist Zeit heimzukommen!« Zu gern wollte Vasari das glauben. Wenn Michelangelo keine Gnade fände, dann niemand, dann waren alle verdammt.

Hinter sich hörte er das Klirren von zerbrechendem Glas. Als er sich umwandte, sah er Francesco, der reglos auf seinen Herrn starrte. Sein ganzes Leben hatte er mit ihm verbracht, seit er ihn über fünfzig Jahre zuvor als Jüngling um Aufnahme gebeten hatte. Der Korb mit den Arzneien war dem Diener zu Boden geglitten, und die Phiolen und Gläser lagen teils zerbrochen, teils noch heil zu seinen Füßen. Stärkende Flüssigkeiten, die dem Göttlichen die Lebenskraft hatten zurückgeben sollen, sickerten in den schmutzigen Fußboden.

»Zu spät, Francesco«, sagte Vasari. »Aber tröste dich, es war schon zu spät, als du losgegangen bist.«

Vasari und Francesco knieten am Sterbebett des Künstlers, als Daniele da Volterra mit Giovanni Kardinal Morone zurückkehrte.

»Lasst mich mit ihm allein. Ich will ihm den letzten Segen erteilen, obwohl er ihn nicht nötig hat, denn er ist in der Gnade«, sagte der Kardinal. Die Männer verließen das Zimmer, während der Kirchenfürst zu beten begann.

Giorgio Vasari, Daniele und Francesco begaben sich in die Küche. Dort knieten sie nieder und beteten lange für ihren Herrn und Meister. Bis zur Erschöpfung beteten sie und sangen Psalmen. Nach einer Weile fand sich der Kardinal ein und kurz darauf der Arzt. Gemeinsam leerten sie einen Becher Wein und schwiegen.