»Er ist zu Hause gestorben. Und alt genug war er«, brachte Daniele schließlich hervor.
»Willst du die Mörder davonkommen lassen?«, fragte Vasari entsetzt.
»Wenn jemand erfährt, dass die Inquisition ihn ermordet hat, sind wir des Todes. Sie würden uns den Mord in die Schuhe schieben.«
»Aber wir beide, Daniele, haben Santori und seine bravi gesehen!«
»Würdest du auch unter der Folter darauf bestehen?«
»Messèr Giorgio hat recht«, warf Morone ein, der am eigenen Leib leidvolle Erfahrung mit dem Wirken der Inquisition gemacht hatte. »Gegen Santori kommt ihr nicht an. Wartet noch einen Tag, dann schickt nach Isaac.« Er sah den Arzt an. »Ihr werdet den Tod feststellen und bestätigen, dass Michelangelo Buonarroti an Altersschwäche gestorben ist. Daniele holt die anderen Freunde in Rom herbei, ich komme, um die Letzte Ölung vorzunehmen, und ihr verbreitet das Gerücht, dass Michelangelo krank daniederliegt und niemanden zu sehen wünscht. Ihr aber, Giorgio, begebt Euch zu Eurer eigenen Sicherheit zurück nach Florenz, und erwartet dort die Nachricht vom Tod des Meisters. Und vergesst nicht, Ihr müsst sein Vermächtnis erfüllen!«
Auf dem Rückweg nach Florenz kam ihm auf der Landstraße kurz hinter Aquapendente Ascanio entgegen. Schon von Weitem erkannte Vasari den Unglücksboten, der ihn zu Michelangelo gerufen hatte. Offenbar hatte er es in seinem Haus in Florenz nicht länger als eine Nacht ausgehalten, es schien ihn unweigerlich zurück nach Rom gezogen zu haben. Kurz darauf standen sie voreinander und schauten sich stumm an.
Ein Blick in Vasaris Augen verriet dem alten Fechtmeister, dass sein Herr tot war. Aber er hatte schon zu viele Menschen sterben sehen, als dass er eine Regung zu zeigen vermocht hätte. Er zuckte mit den Achseln, nicht aber aus Gleichgültigkeit, sondern aus Einsicht in den unveränderlichen Lauf der Welt.
»Auch für mich ist es längst Zeit«, sagte der ergraute Kämpe ohne Selbstmitleid, kühl und sachlich.
»Was willst du jetzt tun?«, fragte ihn Giorgio Vasari.
»Ich bin des Lebens überdrüssig. Ins Kloster würde ich ja gehen, aber da wird mich kaum eine Degenspitze ins Jenseits befördern, und ein anderer Tod wäre irgendwie für mich nicht richtig. Versteht Ihr, was ich meine, Messèr Giorgio? Fast alle meine Freunde sind durch Rapier oder Kugel, durch das verfluchte Eisen gestorben – kaum einer im Bett!«
Vasari verstand nur zu gut, was der alt gewordene Fechtmeister empfand. Rüstig war er noch, in der Tat. »Tritt in meine Dienste«, sagte er. »Wenn ich nicht male oder baue, schreibe ich Bücher über die großen Maler und Bildhauer. Ihre Kunstwerke, ob in Neapel oder in Mailand, muss ich mir dazu anschauen. Deshalb bin ich oft unterwegs. Ich brauche einen wehrhaften Begleiter für meine vielen Reisen. Hast du Lust? Hast du Wagemut?«
Ascanio konnte sich nicht zur Ruhe setzen. Er wollte nicht, dass ihn der Tod, wenn es einmal an der Zeit war, in einem Bett antraf, wehrlos und winselnd. Im Gegenteil, nicht der Tod sollte ihn, sondern er wollte den Tod finden, ihm tollkühn und unbeeindruckt ins kalte Auge starren. Nur der war frei, der auch über seinen Tod zu entscheiden vermochte. Das hatte er gelernt bei dem vielen Sterben, das er im Laufe seines Lebens hatte mit ansehen müssen.
»Verfügt über mich, Messèr.«
Rom, Anno Domini 1574
Zwei Baumeister hatten sich mit mäßigem Erfolg bemüht, den Petersdom zu vollenden. Die Idee des Oculus, mit dem die Kuppel abschließen sollte, hatten sie nicht verstanden. Doch nun hatte Gregor XIII. den Architekten Giorgio Vasari 1573 zum Baumeister ernannt. Endlich konnte er darangehen, Michelangelos Vermächtnis zu erfüllen.
Der Abend brachte überraschend den Geruch des Schnees nach Rom. Wie nasse, kühle Watte fühlte sich die Luft an. Um seine Nervosität zu beschwichtigen, hatte er einen ausgiebigen Spaziergang durch die Stadt unternommen. Bei dem Gedanken, dass er sich in seinem Alter wie ein Jüngling aufführte, der zum ersten Mal Erfahrungen mit der Liebe machte, huschte ein Lächeln über seine von einem dichten schwarzen Bart umstellten Lippen.
Fackeln und Öllämpchen warfen verstohlen ihr Licht durch Fenster und Türritzen auf die Plätze und Gassen, die entvölkert vor sich hin dösten. Dafür platzten die Tavernen, Kaschemmen und Bordelle aus allen Nähten. In einer dieser Schankstuben würden sich auch seine Gesellen vergnügen, dachte Vasari. Am nächsten Tag würden sie sich wieder vor Eifer überbieten, weil sie Schulden gemacht hatten, und ihn um einen Vorschuss anbetteln. Sollten sie! Er war nicht kleinlich, schüttelte aber doch den Kopf. Der Karneval war gerade vorüber, aber der Hunger des popolo auf Vergnügungen längst nicht gesättigt. Die Ewige Stadt glich wie immer einem Hexenkessel, in dem sich alle in Bewegung befanden, niemand aber vorankam, weil sich Hoffnungen und Handlungen der Menschen von jeher um den Vatikan drehten. Davon konnte er ein Lied singen, das von Dur in Moll und dann wieder zurück in Dur wechselte, um vielleicht als Scherzo oder als Requiem zu enden.
Nun fiel in dicken, schweren Flocken doch noch der Schnee, der in Rom ein eher seltener Gast war. In all den Jahren hatte er als Florentiner erfahren müssen, dass die Römer allen Ernstes glaubten, Gott selbst hätte ihre Stadt in den Mittelpunkt der Erde und somit des Weltalls gestellt. Und wie die Sonne um die Erde kreiste, so drehten sich die Bewohner Roms um den Papst in Sankt Peter, dessen halb fertiger Neubau sich über dem Grab des Apostels Petrus in den Abendhimmel streckte, ohne das Firmament auch nur zu berühren. Der Hauptbau mit den Vierungspfeilern, die einst die Kuppel tragen sollten, erinnerte in seiner unfertigen Rundheit leider nicht nur die boshaften Lutheraner an den Turmbau zu Babel. Vor dem Ehrgeiz, die größte Kirche der Christenheit zu errichten, duckte sich wie ein geprügelter Greis die alte Basilika, die Kaiser Konstantin vor über zwölfhundert Jahren gebaut hatte.
Giorgio Vasari, der leitende Architekt von Sankt Peter, kehrte erfrischt, aber nicht beruhigt von seinem Spaziergang ins Belvedere zurück und klopfte sich den Schnee vom Pelz.
»Es hat geschneit, Messèr Giorgio. Seht! Nur für Euch. Welch ein Wunder«, sagte Ascanio, als er ihm aus dem Mantel half.
»Zu viel der Ehre für mich. Ich bin nur ein armer Junge aus Arezzo.«
Der Architekt setzte sich auf einen Holzschemel und ließ sich von seinem Diener die schweren Lammfellstiefel ausziehen. Dann befahl er ihm, in der ganzen Villa Fackeln, Kerzen und Öllämpchen zu entzünden. Wie eine Sommersonne sollte sein Quartier in die Dunkelheit des Winters hinausleuchten.
Er warf einen Blick aus dem Fenster. Im Mondlicht glitzerte der Schnee, als bestünde er aus getriebenem Weißgold, das der Kunstschmied zu allem Überfluss noch mit unzähligen kleinen Brillanten bestreut hatte, schön und erhaben, aber auch kalt und tot. Doch Vasaris Knochen sehnten sich nach Sonne, nach Wärme, nach Leben und nach der Liebe. Aufgeregt wie ein Jüngling vor dem ersten Stelldichein, legte er seine Malutensilien in Erwartung ihres Besuchs zurecht.
Die Villa, die ihm Papst Gregor XIII. als Unterkunft zur Verfügung gestellt hatte, stand dem Borgia-Turm innerhalb der vatikanischen Mauern gegenüber und schloss den sogenannten Belvederehof ab, in dem zuweilen Vorführungen und Turniere stattfanden. Deshalb nannte man den lang gezogenen Rechteckhof auch teatro.
Während er in seiner Werkstatt bedächtig den Bleigriffel und die Rötelstifte auswählte, eilten seine Gedanken immer wieder zu ihr. Nur die besten Stifte kamen für die Zeichnung infrage, die schließlich als Vorlage für ihr Porträt dienen sollte. Als erfahrener Künstler wusste er, welches Wagnis er damit einging, sie zu malen. Wenn es ihm misslingen sollte, ihre Schönheit zu treffen, würde er die geliebte Frau mit dem Bildnis beleidigen und sich vor aller Welt für immer blamieren. Sein Ruf war inzwischen so groß, er selbst eine Institution geworden, dass die vielen Neider nur auf eine Chance warteten, um ihn zu schmähen. Wieder fühlte er sich wie ein Geselle, der sein Meisterstück noch abzuliefern hatte. Sollte diese Unruhe denn nie aufhören?