Mit dem Messer spitzte er die Rötelstifte an. Sie rochen ein wenig nach nasser Erde. Er liebte ihren Duft. Wie süchtig er danach war, in den Geruch der Farben einzutauchen, weil er ihn an eine andere, eine bessere, eine von ihm geschaffene Welt erinnerte. Während er die Spitzen der Stifte prüfend gegen das Licht hielt, trat sie wie ein Trugbild der Sinne vor seine Augen. Er glaubte plötzlich, das Flüstern ihrer Stimme zu hören und ihren betörenden Duft in der Nase auszumachen.
Lag es wirklich erst eine Woche zurück, dass sie sich zum ersten Mal begegnet waren? Er hatte das Gefühl, sie schon ewig zu kennen, obwohl sie ihn immer wieder von Neuem überraschte. Die letzten Tage waren wie im Rausch vergangen und hatten die Ängste verdrängt, die ihn jagten. Es war wie ein Wunder. Er glaubte tatsächlich, dass ein neues Leben begann. Ohne sich zu verabreden, sahen sie sich täglich, als führte eine geheimnisvolle Kraft immer wieder ihre Wege zueinander. Als ob Amor die Enden eines Hufeisens zueinanderbog. Stand der Sohn der Venus im Dienst des Schicksals oder der Fortuna, die ihr Rad beständig drehte, sodass nichts Bestand haben konnte? Aber weil Fortunas Rad niemals stillstand, musste man doch greifen, was zu greifen, erhaschen, was zu erhaschen war, denn im nächsten Moment hatte es sich unerbittlich weitergedreht, und was es gewährte, nahm es gleich wieder, um es einem anderen zu schenken.
Und dabei hätte Vasari um ein Haar die Gunst der Glücksgöttin ausgeschlagen! Wenn er daran zurückdachte, konnte er nur noch den Kopf schütteln. Er hatte keine Lust verspürt, der Einladung des Kardinals Morone zu folgen und dessen Abendgesellschaft zu besuchen, sich aber schließlich doch dazu durchgerungen, weil der Kirchenfürst im hohen Ansehen der Künstler und Intellektuellen der Ewigen Stadt stand. Es war ganz einfach. Wer zu dieser Abendgesellschaft eingeladen war, gehörte zur guten Gesellschaft Roms. Wäre er nicht erschienen, hätte er wie die Missgünstigen gemutmaßt, er sei in Ungnade gefallen. Aus seinem freiwilligen Fernbleiben hätten sie ein erzwungenes gemacht und genüsslich verbreitet, dass sein Stern im Sinken begriffen sei. Oh, in dieser Stadt frönten die Menschen dem Schlechtreden wie einer Leidenschaft. Und an keinem anderen Ort der Welt wurde so rasch aus Reden Wirklichkeit. Schlechte Fama konnte er sich nicht leisten. Sein Geschäft beruhte auf seinem untadeligen Ruf. Am eifrigsten hätten übrigens die getuschelt, die sich eine Einladung erschlichen hatten. Also hatte sich Vasari wohl oder übel dazu gezwungen, die Einladung anzunehmen. Außerdem ging es nicht an, einem Mann wie Giovanni Morone mit Missachtung zu begegnen.
Wie immer hatte der Kirchenfürst die beiden mittleren Säle im piano nobile seines Palazzos ebenso zurückhaltend wie festlich schmücken lassen. Im ersten Saal war das Buffet angerichtet. Dort standen Stühle und Sessel nebst kleinen Tischchen. Hierhin konnte man sich zu einem vertrauten Gespräch zurückziehen und nebenbei an einer Fasanenkeule knabbern oder ein paar Sardinen naschen. Der zweite Saal war den Darbietungen von Sängern, Tänzern, Schauspielern und Musikern vorbehalten, aber wenn es einen der illustren Gäste danach gelüstete, ein Gedicht vorzutragen oder eine kleine Predigt zu halten, so durfte er sich gern hier in Szene setzen. Das feingeistige Publikum dankte es ihm mit Aufmerksamkeit und apartem Applaus.
Den Mittelpunkt der Gesellschaft bildete unangefochten der Held des Tridentinischen Konzils selbst, der Hausherr Giovanni Morone. Während ein junger Dichter seine Madrigale zur Laute sang, spürte der Architekt plötzlich neben sich die eindrucksvolle Aura einer Frau. Ihr Duft nach Rosen, Zimt und gebrannten Mandeln, eingefasst wie ein Diamant in einen Hauch von Moschus, stieg ihm in die Nase und erregte ihn sofort. Animalische Zartheit, dachte er. Er wagte kaum, sie anzuschauen. Mit einer ironisch hochgezogenen Braue erwiderte sie seinen Blick.
»Geschickt, aber schlecht«, sagte sie, wobei sie mit dem Kopf in Richtung des Sängers nickte.
»Er beherrscht die Form vortrefflich«, nahm Vasari den jungen Mann in Schutz.
»Was nützt das, wo er uns doch nichts zu sagen hat. Würde er die Worte weglassen, könnten wir uns wenigstens an der Melodie erfreuen. So ärgern wir uns über den Strauß welker Banalitäten!«
Er wandte sich der Unbekannten ganz zu. Das Leuchten ihrer dunkelbraunen Augen deutete Abgründe an, in denen sich ein Mann verlieren konnte. Die hohen Wangenknochen, die feine Nase und der zierliche Mund unter geschwungenen Brauen verliehen ihr ein edles Aussehen. Die hohe Stirn fügte dem aristokratischen Antlitz noch eine beunruhigend kluge Note hinzu. Das rehbraune Haar hatte sie scharf gescheitelt und vermutlich im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden. Doch wurde ihre Frisur von einem Seidentuch in der Farbe schimmernder Perlen verborgen, das nach hinten gefaltet war und auf die Schultern und in den Nacken fiel.
»Ich glaube, wir sind einander noch nicht vorgestellt worden«, sagte Vasari und fuhr nach einem Räuspern fort. »Cavaliere Giorgio Vasari.«
»Cavaliere? Es gibt so viele davon. Darf ich Euch Messèr Giorgio nennen?« Ihr Lächeln wog die kleine Ohrfeige, die sie seiner Eitelkeit versetzt hatte, bei Weitem auf.
»Ihr dürft, Madonna …«
Ein leichtes Rot belebte ihren vornehmen Teint. »Oh, ich bin keine Madonna. Marchesa Isabella di Vignola. Aber nennt mich ruhig Isabella, es gibt auch so viele Marchesas, Messèr Giorgio.«
»Es ist mir eine Ehre, Isabella«, sagte Vasari mit einer Verbeugung.
»Lasst es Euch lieber eine Freude sein. Die Freude ist menschlicher als die Ehre.«
Er hatte sich Hals über Kopf in sie verliebt, obwohl er längst kein heißblütiger Jüngling mehr war, und sie schien sein Gefühl zu erwidern. Vasari konnte sein Glück kaum fassen, denn in seinem Alter fand man zwar Huren die Menge, der Vermögende auch Kurtisanen, die einem alles vorlogen, was man hören wollte, alles machten, was man sich wünschte, und stöhnten, hoch oder tief, schnell oder langsam, mit kleinen spitzen Schreien gewürzt oder von schwerem Schnaufen grundiert, wie man es bevorzugte. Aber man traf keine junge Frau mehr, die einen wirklich um seiner selbst willen liebte, weil der eigene Atem inzwischen schon so nach Tod und Verwesung stank, dass einem selbst schlecht davon wurde. Doch ihm, Giorgio Vasari, war sie begegnet, eine wirkliche Dame, die zwar dreißig Jahre jünger war als er, aber weder sein Geld noch seine Protektion benötigte, sondern nur ihn begehrte, ihn, den kleinwüchsigen Maler.
Am Abend zuvor beim Spaziergang hatte sie ihn unvermittelt gefragt, ob er sie porträtieren wolle. Seine Freude und sein Erschrecken darüber hielten sich die Waage. Große Fresken, Massenbilder für Paläste und Altäre hatte er angefertigt, Gebäude errichtet, Staatsfeste und Volksumzüge ausgestattet, aber Porträts gehörten nicht zu seinen Spezialitäten.
Wie bei jedem neuen Gemälde wollte er zunächst eine Skizze anfertigen, bevor er ihr Bildnis auf einer Buchenholztafel in Öl bannen würde. Für den Entwurf hatte er lange zwischen Papier und Karton geschwankt, schließlich sich doch für Letzteres entschieden. Es gehörte eigentlich zu den Aufgaben der Gesellen, den Karton herzustellen und zu grundieren, aber diesmal hatte er es sich selbst vorbehalten, den Karton zu leimen und das Knochenmehl darauf zu verstreuen, mit Speichel haftbar zu machen und mit einer Hasenpfote zu verputzen, bis die Oberfläche glatt genug war, um mühelos die Striche aufzunehmen und zu konservieren. Wenn er mit den Fingerspitzen über den grundierten Karton fuhr, auf dem die gelben, weißen und roten Lichter der Kerzen auf dem schneeweißen Untergrund tanzten, glaubte er, ihre glatte Haut zu berühren.