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Er wandte sich nach links und hielt sich an die leoninische Mauer. Auf der rechten Seite begrenzte ein Abhang den Weg, von dessen Fuß aus die Weinberge sich in die Campagna erstreckten. Die Dunkelheit erlaubte ihm nur, zwischen Schritt und Trab zu wechseln. Galopp, wie es seiner Stimmung entsprochen hätte, verbot sich von selbst.

Entkommen, dachte er dankbar. Doch dann fiel ihm ein, dass er das Buch zurückgelassen hatte, das »Buch der Baumeister«. Er fluchte, aber er konnte es nicht wagen, zu seinem Palazzo zurückzukehren. An dem Buch klebte Blut. Vasari verspürte keine Neigung, seines hinzuzufügen.

Je mehr er wieder zu klaren Gedanken kam, desto heftiger quälte ihn die Ungewissheit über Isabellas Schicksal. Aber solange er selbst in Lebensgefahr schwebte, durfte er nicht einmal daran denken, nach ihr zu suchen. Vasari redete sich ein, dass ihr nicht damit gedient sein konnte, wenn man ihn bei dem Versuch, sie zu befreien, ermordete. Wenn sie überhaupt noch lebte. Aber diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Und überhaupt! Wo sollte er denn mit der Suche beginnen? Ihm fehlten sämtliche Anhaltspunkte. Er begegnete seinen Schuldgefühlen mit den Argumenten der Vernunft und mit dem Schwur, so schnell wie möglich ein Heer von Spionen auszuschicken, um sie zu finden. Wie immer in heiklen Situationen seines Lebens zog es Vasari vor, andere für sich handeln zu lassen. Und auch nach dem Buch wollte er suchen lassen. Vielleicht war es der Grund für den nächtlichen Überfall, weil etwas darin stand, was er hätte niemals erfahren sollen. Sein Instinkt sagte ihm, dass er bei der Suche nach dem »Buch der Baumeister« noch viel bedächtiger vorgehen musste als bei der Suche nach der geliebten Frau.

Eine knappe halbe Stunde später umrundete er den Petersdom. Die Vierungspfeiler erhoben sich über der größten Baustelle des Abendlandes und erinnerten in ihrer Einsamkeit an vergessene Riesenkinder. Wenigstens war es ihm als Architekten noch gelungen, den Tambour für die Kuppel auf die Vierung zu setzen. Ein Silberring aus Schnee verzierte jetzt den nüchternen Rohbau und verlieh ihm etwas Verspieltes. Wie der Zauber des Neuschnees doch die Formen der Welt besänftigte, weil er die harten Konturen milderte.

Der leitende Architekt der Fabbrica di San Pietro wusste nicht, ob er noch einmal nach Rom zurückkehren und es ihm vergönnt sein würde, die Vierung zumindest mit Michelangelos Kuppel zu krönen. Die sechs größten Architekten der letzten sechzig Jahre waren bereits über den Bauarbeiten hinweggestorben, und ein jeder hatte nur noch mehr Chaos hinterlassen. Wie eine heftige Übelkeit breitete sich vom Magen her in Vasari das Gefühl der Vergeblichkeit aus. Auf seiner Zunge schmeckte er kurz darauf das bittere Aroma des Scheiterns.

Ja, er war entkommen, nicht aber gerettet! Er begann, erbärmlich zu frieren. Wenn er nicht bald ein warmes Plätzchen fände, zudem noch Winterkleidung bekäme, dann würde der Frost das erledigen, was den gedungenen Mördern nicht geglückt war. Doch er konnte nicht lange nach einem Ofen suchen – keinen Wimpernschlag hielt es ihn länger in der Stadt, in der er niemandem mehr trauen konnte. Kardinal Morone vielleicht, sicher war sich Vasari indessen nicht. Und selbst wenn Morone der war, für den er ihn hielt, durfte er ihn keinesfalls kompromittieren. Sein Heil lag in der Flucht. Vasari beschloss, nach Florenz zu reiten und sich unter den Schutz Francescos I., des Großherzogs von Toskana, zu stellen. Was er immer befürchtet hatte, seit er das Geheimnis kannte, war nun eingetreten. Seine unfreiwillige Mitwisserschaft war einem mächtigen Mann, der es nicht dulden konnte oder wollte, dass jemand sein Geheimnis teilte, nicht verborgen geblieben.

Vasari hatte die Uferstraße, die den Borgo mit Trastevere verband, erreicht, passierte die Kasematten der Engelsburg, überquerte die Brücke über den Tiber und wandte sich schließlich dem Campo Marzio zu. Auf dem Pflaster hallten die Hufe seines Pferdes verloren wider. Zwei zerlumpte Gestalten wollten sich ihm in den Weg stellen, verzichteten jedoch darauf aus Angst, unter die Hufe des kräftigen, rasch dahintrabenden Schimmels zu geraten. Wer sein Leben liebte, vermied es, um diese Zeit Roms Straßen zu benutzen, denn sie gehörten in der Nacht den Dieben, Mördern und Perversen. Ihre Opfer fischte man für gewöhnlich am nächsten Tag aus dem Tiber. Ihm blieb nur übrig, um Gottes Beistand zu bitten, sein Pferd anzutreiben und sich warme Gedanken zu machen.

Giorgio Vasari, Ritter vom Goldenen Sporn, verließ im Februar 1574 zu später Stunde Rom durch die Porta del Popolo und wandte sich nach Norden. In Ronciglione klopfte er halb erfroren und mehr tot als lebendig den Wirt eines Gasthauses aus den Federn und ließ sich eine fette Hühnerbrühe und einen Glühwein servieren, bevor er versuchte, ein paar Stunden zu schlafen.

Das Zimmer war klein. Die Fensterlöcher hatte man wegen der Kälte mit Holzbrettern verschlossen, weshalb es in dem Raum nach abgestandenem Schweiß und nach anderem, was man besser nicht genauer wissen wollte, stank. Die Decken, die auf der Schlafstatt lagen, starrten vor Dreck und rochen muffig. Doch Vasari hatte keine Wahl. Unruhig wälzte er sich in dem schmalen Holzbett hin und her. Kaum eingeschlafen, wachte er mit dem Gefühl, von Wanzen gestochen zu werden, wieder auf. Schließlich weckte er abermals den Wirt, kaufte ihm ein Rapier und einen Fellmantel ab, der seinen modischen Ansprüchen nicht im Mindesten entsprach, ließ sein Pferd vorführen und ritt in die Dämmerung des anbrechenden Tages.

Es hörte auf zu schneien, und der einsetzende Frost ließ die Schneekristalle verharschen. Wind kam auf. Nicht die Nacht, sondern der frühe Morgen brachte die kältesten Stunden, wenn die letzte Wärme des Vortages aufgebraucht war. Während die Sterne langsam verblassten, erfroren die Menschen.

Die eisigen Temperaturen hatten Vasari fest im Griff, weil sein überanstrengter Körper zu wenig Wärme erzeugen konnte. Es ist schon zu viel Tod in mir, dachte er bitter. Wenn er Florenz lebend erreichen sollte, nahm er sich vor, als Erstes ein warmes Bad mit Lavendel, Kardamom, Melisse und Latschenkiefernöl zu nehmen.

60

Auf der Straße zwischen Rom und Florenz

Anno Domini 1574

Am Morgen erreichte Vasari die Stadt Viterbo. Er nahm ein üppiges Frühstück ein und trank viel heißen Wein mit Honig und Nelken. Danach ließ er sich in der kleinen Filiale des Bankhauses Bardi Geld aushändigen, kaufte anständige, warme Kleidung, tauschte das Pferd und machte sich wieder auf den Weg. Reichlich benebelt, wie er feststellte, aber auch das erste Mal seit seiner Flucht ohne zu frieren. Eine Weile jedenfalls.

Gegen Mittag traf er in Montefiascone ein, wechselte erneut das Pferd und galoppierte weiter. Früher hatte er immer auf dem Weg zwischen Rom und Florenz am Lago di Bolsena Station gemacht und die Aussicht auf das Wasser und die umliegenden Berge genossen, aber dazu fehlte ihm diesmal die Ruhe. Er war vorsichtig, und die Vorsicht verbot, sich in dem naiven Glauben zu wiegen, dass seine Verfolger aufgegeben hätten – auch wenn ihm niemand aufgefallen war, der ihm an den Fersen hing.