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Seine nächste Station war San Lorenzo. Von einer inneren Unruhe getrieben, ließ er sich auch hier nur ein neues Reittier geben und setzte die Reise am späten Nachmittag fort. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, noch an diesem Tag Acquapendente und damit die Grenze des Kirchenstaates zu erreichen. Doch bis in die Toskana würde er es nicht in einem Ritt schaffen, denn er wollte nicht das Gebirge bei Nacht und Dunkelheit durchqueren. Nicht nur wegen der Räuber, auch wegen der bösen Geister, die dort hausten. Er hatte in seinem Leben genügend Geschichten von bemitleidenswerten Reisenden gehört und auch erlebt, die den Untoten und Wiedergängern zum Opfer gefallen waren. So war einmal der Körper eines seiner Gesellen, den er mit Briefen nach Florenz gesandt hatte, tags darauf mit abgerissenem Kopf an einem Berghang gefunden worden. Das Haupt des Bedauernswerten tauchte nie wieder auf. Deshalb mied Vasari nachts das Gebirge. Jeder wusste doch, dass um Mitternacht die Hölle ihre Pforten öffnete, und ihre Zugänge befanden sich nun einmal in den Bergen. Im Wald, wie der göttliche Dante geschrieben hatte. Er kannte die Verse auswendig:

»Ich wandelte dahin durch finstre Bäume

Da ich die rechte Straße aufgegeben.

Wie schwer ist reden über diese Räume

Und diesen Wald, den wilden herben …«

Langsam ließ der Schock nach, und Vasari begann, in Ruhe über die Ereignisse der letzten Stunden und Tage nachzudenken, um einen Sinn in dem Ausbruch der Gewalt zu entdecken. Außer durch Bestechung oder auf allerhöchste Anordnung konnten die Meuchelmörder nicht in den gut bewachten Palazzo eingedrungen sein und vor allem keine freie Hand gehabt haben. Andererseits verwies das gesattelte Pferd darauf, dass man ihm eine Chance zur Flucht einzuräumen gedacht hatte. Aus welchem Grund? Wollte man ihm wirklich ans Leben, oder war der Überfall nur eine deutliche, mit Blut bekräftigte Warnung? Steckten womöglich hinter dem Anschlag und der Rettung dieselben Personen? Oder kämpften nur Rivalen auf einem Kriegsschauplatz gegeneinander, der dummerweise seine physische Existenz darstellte? Wer war der Auftraggeber für dieses dreiste Attentat, das seinem guten, alten Ascanio den Tod gebracht hatte? Die Erinnerung an den alten Fechter stimmte ihn melancholisch. Ascanio hatte allerdings immer gewusst, dass er nicht im Bett, sondern durch einen Degen sterben würde, dachte Vasari, bevor sich wieder die Sorge um Isabella in den Vordergrund drängte. Lebte sie noch? Wurde sie gefangen gehalten, oder hatte man sie inzwischen als lästige Mitwisserin getötet?

Plötzlich schoss ihm eine Idee durch den Kopf. Die ganze Zeit über war er davon ausgegangen, dass er selbst das Ziel des Komplotts gewesen war. Oder das Buch. Aber vielleicht irrte er sich auch. Für einen Augenblick erwog er, ob hinter dem Überfall ein eifersüchtiger Liebhaber steckte. Wenn dem tatsächlich so war, dann kamen allerdings nur der Kardinal Großinquisitor, der Vizekanzler der Kirche, der Datar, der Vikar von Rom, der Generalkapitän oder der Papst selbst als Galan infrage. Doch für eine simple Eifersuchtsgeschichte war der Einsatz letztlich doch zu groß. Das hätte man einfacher regeln können.

In anderer Hinsicht verhielt sich die Angelegenheit weitaus schlimmer. Als Cavaliere wäre Vasari verpflichtet gewesen, für die Dame seines Herzens zu kämpfen, auch wenn es sein Leben gekostet hätte. So sah es die Ehre vor. Aber er hatte nur feige die Flucht ergriffen und sie ihrem Schicksal überlassen, einem Schicksal, dessen Ursache auch noch bei ihm lag. Er zügelte abrupt das Pferd, sprang ab und übergab sich. Dann hustete er und fasste sich an die Brust. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er setzte sich auf den Boden, um nicht zu stürzen. Nach einer Weile schwand die Übelkeit, und er erhob sich langsam. Noch immer spürte er einen leichten Schwindel. Er zwang sich, diesen zu verdrängen. Nichts als Hirngespinste! Die Zeit der Ritter und der Ritterlichkeit war längst vergangen. Sie existierte nicht einmal mehr in der Dichtung, wie noch zu seiner Jugend, sagte er sich, um sich zu beruhigen.

Ja, er bewunderte mutige Männer wie Giovanni Morone. Allein, diese Kühnheit stand ihm nicht zu Gebote. Während er sich den Mund abwischte, fasste Vasari den Entschluss, den Kardinal um Hilfe zu bitten. Dann saß er wieder auf, gab dem Pferd die Sporen und redete sich für eine Weile ein, dass er selbstverständlich und liebend gern für Isabella die Klinge gekreuzt hätte, wenn er nur im rechten Moment ein Rapier statt eines Bleigriffels zur Hand gehabt hätte. Es blieb ihm indes nichts weiter übrig, als sich an den Geschmack in seinem Mund zu gewöhnen, weil die Säuernis nicht weichen wollte und er nichts hatte, um sie hinunterzuspülen.

Der Halbmond hing wie eine beschädigte Laterne über dem Weg. Er war langsamer vorangekommen, als er gehofft hatte. Um diese Zeit hatte er schon in Aquapendente sein wollen. So ging er schließlich doch noch abends ins Gebirge. Vasari bekreuzigte sich und bat den Herrn inständig um Beistand. Rechts und links säumten kahle Pappeln den ansteigenden Buckelweg. Ohne Laub wirkten die Bäume wie Ruten, erstarrt, zerbrechlich und vor allem tot, so als würden niemals wieder Blätter und Früchte aus dem tauben Holz sprießen. Je

stärker die frostige Luft ihm durch Mantel, Hose und seinen Malerumhang drang, umso mehr drückte bleiern die Müdigkeit auf seine Lider. Was vermochte er dem Schlaf schon entgegenzusetzen? Je weiter er sich von Rom entfernte, desto schmerzhafter wurden die Gewissensbisse. Von Isabellas Gestalt zu träumen half ihm zum Glück dabei, die Schuldgefühle zu verdrängen, die er ihretwegen empfand. Wenige Stunden zuvor hatte sie im Atelier vor ihm gestanden. Die Erinnerung an den Anblick ihres nackten Leibes im Kerzenlicht erregte ihn. In der Kälte und der Dunkelheit, die ihn umgab, genoss er die langsame Erektion, weil sie ihm eine Ahnung von Wärme vorgaukelte. Sich jetzt wohlig in einen warmen Leib wühlen zu können … Vasari stellte sich die begabte Kurtisane Pippa dabei vor, wie sie … Sein Hengst bäumte sich plötzlich auf und wieherte, dass es durch Mark und Bein ging. Hätte sich Vasari nicht, einem Impuls folgend, an den Leib des Schimmels gepresst, wäre er zu Boden gestürzt. Mit einem Mal war er wieder hellwach.

Im Silberreif des Mondlichts stand auf dem von Bäumen eingefassten Hohlweg wie in einem Tunnel ein Wolf. Starr, fast wie eine Statue. Das Raubtier musterte ihn nur aus seinen unbewegten gelben Augen. Seiner Reglosigkeit haftete etwas Trauriges an. Ein Prachtexemplar, ein fast vier Ellen großes, nur aus Muskeln und Knochen bestehendes Wesen. Als Maler hatte Vasari einen Blick für die Anatomie der Körper. Er konnte Kraft sehen. Wollte ihn das Raubtier anfallen? Bedächtig zog er blank. Er hatte nicht vor, den Grauen zu reizen, aber er bevorzugte es, für einen Angriff gerüstet zu sein. Wie ein Blitz durchfuhr ihn der Gedanke, dass im Dickicht links und rechts des Weges die anderen Wölfe des Rudels auf den passenden Moment warteten, um über ihn herzufallen. Nichts im Tierreich jagte klüger als ein Wolfsrudel. Doch aus dem dunklen Gesträuch leuchtete nicht das hungrige Gelb ihrer Augen hervor. Scheinbar hatte er einen einsamen Jäger vor sich.

Vasaris Frau, die nicht einmal ahnte, dass er auf dem Weg zu ihr war, würde ihm einen begeisterten Empfang bereiten. Er dachte mit Überdruss an sie und wusste zugleich, wie ungerecht das war. Doch sein Herz hatte er in Rom zurückgelassen. In der Tat hatte er erst vor wenigen Tagen erfahren, dass er überhaupt noch ein Herz besaß, das fähig war zu lieben. Er hatte die Liebe gefunden und gleich wieder verloren. Wie auch seine Sehnsucht, seine Hoffnung und den Tod. Aber er konnte noch so schnell vor seinen Mördern fliehen, der Sensenmann würde ihn am Ende aller Tage doch erwarten wie der Wolf vor ihm. Vasari widerstrebte es, ihn zu töten – in dieser Stunde empfand er wegen der Einsamkeit, die sie verband, fast so etwas wie Liebe zu dem Tier.

»Wo ist dein Rudel?«, fragte er halblaut. Der Wolf knurrte leise, freundschaftlich. Plötzlich vernahm der Architekt Pferdegetrappel, das sich in seinem Rücken näherte. Der Wolf hob den Kopf. Er konnte es ihm ansehen, dass der erfahrene Jäger die Gefahr witterte. Als er sich umblickte, sah er zwei in Lumpen gehüllte Männer, die ihre Degen zogen. Vasaris Blick flog zwischen dem Wolf und den beiden Meuchelmördern hin und her. Das Pferd begann unruhig zu tänzeln. Es spürte die Unentschlossenheit seines Herrn.