Die kleine Szene, deren ungebetener und zufälliger Zeuge er geworden war, entfachte in Vasari erneut den Schmerz über seine Kinderlosigkeit. Wäre seine Ehe mit Söhnen und Töchtern gesegnet gewesen, so hätte sein Leben sicher einen anderen Verlauf genommen, dachte er bitter. Jetzt erst nahm er den gewölbten Bauch der Frau wahr. Sie war schwanger. Ihm entging nicht die Sorge, die sich in ihrem Gesicht widerspiegelte. Niemand wusste besser als er, den die Aufträge und die Recherchen für die Biografien der bedeutenden Künstler seiner Zeit atemlos durchs Land getrieben hatten, dass jede Reise ein Wagnis darstellte. Wer sich in die Welt hinausbegab, vertraute sein Leben unmittelbar Gott an. Räuber, übermütige Adelige, Betrüger und missgünstige Bürger waren nicht zimperlich in der Wahl ihrer Mittel, um ihren Vorteil durchzusetzen. Nach so viel Krieg, Plünderung und Verheerung gab es keine moralischen Autoritäten mehr, nur noch das Recht des Stärkeren und die List des Skrupellosen.
Vasari wollte nicht weiter darüber nachdenken, obwohl ihn der Abschied eines Vaters von seiner Tochter daran erinnert hatte, aber die Welt, in der er lebte, war nicht mehr die seine. Er trieb sein Pferd an. Wie Rosen und Veilchen kam ihm nun der herbe Duft nach Fleisch und Urin vor, der ihm entgegenschlug, als er sich dem Ponte Vecchio näherte. In den winzigen Häusern auf der Brücke hatten die Gerber und Metzger ihre Quartiere aufgeschlagen. Die Abfälle entsorgten sie kurzerhand in den Arno.
Nach der Brücke hielt er sich rechts am Ufer, warf im Vorbeireiten einen grüblerischen und dennoch stolzen Blick auf die von ihm erbauten Uffizien, um dann links abzubiegen und schließlich rechts in den Borgo Santa Croce zu gelangen. Zur Straße hin geizte sein Haus mit den Ausmaßen der Fassadenfront. Nur drei Rundfenster fanden gerade nebeneinander Platz. Dafür bot das Gemäuer ungeahnt viel Raum in der Tiefe und umschloss einen heiteren Innenhof, den er über alles liebte. Er sprang vom Pferd und rief nach Giuseppe. Der Hausdiener erschien wenig später auf der Straße. Er machte große Augen.
»Messèr Giorgio! Wir haben Euch gar nicht erwartet!«
Gleich darauf hörte Vasari im Vestibül das Rascheln eines Kleides.
»Giorgio?« Seine Gemahlin schien es kaum glauben zu können, so unsicher klang ihr Ruf. Nicht ein einziges Mal in den fast fünfundzwanzig Jahren ihrer Ehe war es vorgekommen, dass er ohne Vorankündigung heimgekehrt war. Sie strahlte wie ein kleines Mädchen, das man aufs Schönste überrascht hatte.
Niccolosa, die er zärtlich Cosina nannte, ein Kosename, in dem leider auch die Vorstellung eines Kleinen und Nebensächlichen mitschwang, war eine kraftvolle, aber anmutige Frau, die ihn ein wenig überragte. Ihre schwarzen Augen hatten etwas Durchdringendes. Mit den Jahren hatte sich jedoch eine leise Trauer eingeschlichen und war zum ständigen Gast ihres Blicks geworden. Vasari wusste nur zu gut, was er ihr zumutete. Nie hielt er es lange zu Hause aus. Immer trieb es ihn zu Projekten, zu den Freunden, zu Kunstwerken, die er mit eigenen Augen ansehen wollte, so als gäbe es kein Morgen, sondern nur diesen einzigen, heutigen Tag. So führte Cosina die längste Zeit des Jahres das einsame Leben einer Witwe. Doch sie plagte ihn nicht mit Vorwürfen. Es waren seine Gewissensbisse ihr gegenüber, die mit der Zeit die Gefühle vergifteten, die er für sie hegte.
»Giorgio!«, rief Cosina wieder und fiel ihm um den Hals. Er ließ es über sich ergehen, dann befreite er sich sacht von ihr. »Ich brauche ein Bad.«
»Was stehst du noch herum, der Herr braucht ein Bad!«, fuhr sie in einer Mischung aus Scherz und Ernst den Diener an.
»Eines, das die Kälte aus den Knochen treibt und die Lebensgeister weckt«, fügte Vasari müde hinzu.
Cosina schaute sich suchend um. »Wo ist Ascanio?«
»Tot«, gab er einsilbig zurück.
»Tot?« Ihr immer noch schönes, rundes Gesicht verdüsterte sich. »Nun ja, das Alter …«
»Wir wurden überfallen. Er hat mir das Leben gerettet«, sagte Vasari barsch. Dann tat es ihm leid, dass er sie so angefahren hatte. »Ach, Cosina, lass mich erst einmal ankommen. Ich erzähle dir später alles. Jetzt brauche ich ein Bad, wenn ich mir nicht mit Ascanio ein Wettrennen liefern soll, wer zuerst im Himmel ankommt. Auch wenn seine Seele einen kleinen Vorsprung hat, kann ich ihn immer noch einholen.«
61
Florenz, Anno Domini 1574
»Giorgio?« Überraschter noch als Cosina reagierte Vasaris Freund Vincenzo Borghini auf seine Rückkehr nach Florenz, obwohl er der einzige Mensch auf der Welt war, der immer mit ziemlicher Sicherheit Auskunft geben konnte, wo sich Messèr Vasari gerade aufhielt. Borghini war es auch, der die Bildideen und Motive für die großen Fresken ersann, die der Künstler dann entwarf und malte. Der Prior des Findelhauses Ospedale degli Innocenti, das gegenüber der Kirche Santissima Annunziata lag, starrte Vasari, der in der Tür stehen geblieben war, wie einen Geist an. Er hatte gerade an einem Schriftstück gearbeitet.
»Ich muss dich dringend sprechen«, begann der Architekt.
»Was um alles in der Welt ist geschehen, mein Freund?« Borghini erhob sich, umarmte ihn, dann lud er ihn ein, Platz zu nehmen.
»Nein, nicht hier«, wehrte Vasari ab. Er hatte es eilig und wandte sich zum Flur. Borghini nahm einen Mantel und setzte ein Barett auf, dann folgte er dem Freund auf den Gang.
Aus einem Raum drangen glockenhelle Knabenstimmen, die sich in dem Kyrie aus der »Missa de Beata Virgine« von Josquin zu übertreffen trachteten.
Kurz darauf schritten die beiden Männer über den Platz. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, was ihnen jedoch nichts auszumachen schien. Für Außenstehende wirkten die beiden bärtigen Männer wie Gelehrte, die ins Gespräch über eine philosophische Fragestellung vertieft waren. Doch je mehr er von den Geschicken des Freundes erfuhr, desto entsetzter wurde die Miene des Geistlichen. Schließlich blieb er, die Kirche des Servitenklosters im Rücken, stehen und schüttelte bekümmert den Kopf.
»Soll denn unsere neue Kirche nur Lug, Trug, Blut und Sünde zum Fundament bekommen?« Vasari konnte den Schmerz des Freundes körperlich fühlen. Plötzlich lachte der Prior laut und bitter auf. »Die Lutheraner haben es leicht. Sie führen Gott im Herzen und brauchen keine Kirchen.« Unstet schweifte sein Blick über den Platz. »Die Ketzer haben ja auch keine Kirche!«, fügte er hinzu. Dann packte er Vasari bei den Schultern, wie um sich selbst zur Ordnung zu rufen. »Du musst das alles aufschreiben, Giorgio. So wie du über Michelangelo und Raffael und Leonardo und über all die anderen, über die Maler und Bildhauer, Goldschmiede und Baumeister geschrieben hast. Schreib das Buch über den Bau des Petersdomes.«
Vasari blickte seinen gelehrten Freund verständnislos an. »Wem sollte das nützen?«
»Den Rechtgläubigen und dir. Ersteren, weil wir nur so das Konzil von Trient umsetzen können, denn der Boden der Kirche muss rechtschaffen sein. Und dir, weil dich niemand verfolgen und zu töten versuchen wird, wenn das, was du weißt, alle wissen. Warum soll man dich zum Schweigen bringen wollen, wenn du bereits gesprochen hast?«
»Und Isabella? Ich muss sie retten!«
»Hast du schon deinen Kopf verloren, so verliere nicht noch dein Leben! Ich habe einen tüchtigen Mann in Rom, der mir noch etwas schuldig ist. Er wird nach ihr suchen. Außerdem nutze ich die Zeit, um zu erkunden, wie die Stimmung für dich beim Papst ist. Du aber schreib. Schreib um dein Leben, mein Freund!«
Von dem Buch, das in Rom zurückgeblieben war und das er unbedingt wiederhaben wollte, vom »Buch der Baumeister«, hatte Vasari nichts erzählt. Er wusste nicht warum. Aber eine innere Stimme hielt ihn ab davon.