Aber Giorgio Vasari war weder Theologe noch Historiker noch Philosoph. Die Auswertung und Entzifferung von Quellen und die Wege der Spekulation blieben ihm verschlossen. Er vermochte lediglich zu berichten, was er gesehen und gehört hatte, und auch das nur in den Kategorien der Kunst. Von allen Sprachen Gottes verstand er nur diese, dafür aber beherrschte er die Sprache der Kunst vollkommen.
Als er sich nach vielen fruchtlosen Überlegungen auf sein Metier besann, wusste er es plötzlich, was er zu berichten, worauf er sich zu konzentrieren hatte. Er würde über alle schreiben, die der Wahnsinn befallen hatte, diese Kirche zu bauen, über all jene, die von ihren Leidenschaften und Eitelkeiten immer wieder zu diesem Teufelsloch, zu dieser Baustelle getrieben worden waren. Denn eines stand für ihn inzwischen fest, dass an diesem Ort Engel und Teufel ihren Schabernack und ihre ewigen Kämpfe austrugen mit den Menschen als Marionetten. Er war es jenen schuldig, die ihr Leben für dieses große Unternehmen hingegeben hatten: dem armen Bramante, dem großen Michelangelo, dem Princeps Concordiae, der schönen Imperia und natürlich auch dem bemitleidenswerten Giacomo il Catalano.
Vom frühen Abend aber bis in die tiefe Nacht hinein stand er an seinem Schreibpult, tauchte die Feder in die Tinte, trieb wie besessen Buchstaben für Buchstaben über das Pergament, als ob jedes Wort, das er vollendete, sein Leben verlängern, Vergessen und Vergebung bringen würde. Am Morgen versteckte er stets das Geschriebene vom Vortage in einer verdeckten Röhre der Kuppel des Domes Santa Maria del Fiore, in dem Fresko des Jüngsten Gerichtes zu Füßen der Jungfrau Maria, die er als Himmelskönigin gemalt hatte. Zwei Engel mit Palmwedeln standen links und recht von der Stelle, wo Vasari hinter einem lockeren Stein das Manuskript in einer Nische verbarg. Auf der ersten Seite hielt er den Titel seiner Geschichte des Petersdomes fest:
»Die wahre und tödliche Geschichte des Petersdomes, erzählt nach den Quellen, den Zeugnissen des göttlichen Michelangelo und dem eignen Erleben von Messèr Giorgio Vasari, Ritter vom Goldenen Sporn, Architekt des Petersdomes und Maler aus Arezzo, der in Florenz unter der guten Regierung des Francesco I. de Medici lebt und viele Jahre in Rom zugebracht hat, dargestellt nicht für jedermann, aber in Liebe zu Gott, in Furcht vor der heiligen Inquisition, den Fedeli d’Amore zum Gedenken.«
Giorgio Vasari legte die Feder aus der Hand. Er fühlte sich müde. Hatte er sich überlebt, war er älter als die Zeit? Was konnte er noch schreiben? Vor ihm lag das Bundesbuch der Fedeli d’Amore, das durch so viele Hände gegangen war. Er schlug es auf und blätterte darin, bis zu der Seite der Priore. Da standen sie mit Namen: Meister Eckhart, Dante, Boccaccio, Brunelleschi, Pico della Mirandola, Bramante, Raffael, Antonio da Sangallo. Als er an Michelangelos Gegner dachte, öffnete sich die Tür zu seinem Arbeitszimmer.
»Ich bin es wirklich«, sagte Isabella. Vasari rieb sich die Augen, dann bat er sie herein.
»Ihr habt da etwas, das mir gehört. Ich möchte es zurückhaben!« Ihr Blick wies auf das Bundesbuch der Gefährten der Liebe. Sie legte den Mantel ab. Jetzt erst fiel ihm auf, dass sie Männerkleider trug, Hose, Hemd und Wams, dazu Stiefel. Sie nahm die florentinische Mütze ab, die so praktisch war, wenn man bei kaltem und nassem Wetter weite Strecken ritt.
»Möchtet Ihr etwas essen, etwas trinken?« Er bot ihr einen Stuhl an. Sie schüttelte den Kopf und setzte sich.
»Ich bin Euch eine Erklärung schuldig. Erzählt es niemandem, Messèr Giorgio.« Und dann berichtete Isabella, während er in ihre Augen eintauchte wie in den Tod. Ihr Großvater war Antonio da Sangallo, der Lucrezia geheiratet hatte. Bartolomeo da Sangallo hieß ihr Vater, zu ihrem Paten aber wurde der Kardinal Carafa. Sie begann, für die Inquisition zu arbeiten. »Gib mir das ›Buch der Baumeister‹. Du wirst einsehen, dass es vernichtet werden muss, so wie alle Erinnerungen an die Fedeli d’Amore auszulöschen ist, für jetzt und alle Zeit.«
Vasari reichte ihr das Buch. Wie hätte ein alter Mann wie er sich wehren können, ohne das Augenmerk der Inquisition auf sich und seine Frau zu lenken? Isabella steckte das Buch in eine Ledertasche und verließ ihn.
Giorgio Vasari saß da wie gelähmt. Ihm war, als ströme alle Lebenskraft aus ihm heraus. Sein Trost und seine Freude war die Gewissheit, dass die Geschichte der Fedeli überleben würde, in dem Manuskript, das in seinem Stehpult lag und von dem Isabella nichts wusste. Die nächsten Tage schlief er lange, ging spazieren, las, unterhielt sich mit Cosina, mied aber die Arbeit. Sieben Tage später überkamen ihn Übelkeit und Schwindelgefühle. Er musste sich abstützen, um nicht zu stürzen. Gegen Mittag legte er sich zu Bett. Cosina wollte den Arzt rufen, doch er winkte ab. »Niemand kann das Leben halten«, sagte er, dann schloss er die Augen. »Hol einen Priester!«
Cosina schickte nach Vincenzo Borghini. Nachdem ihm der alte Freund die Beichte abgenommen hatte, erteilte er ihm die Sterbesakramente.
In seinen letzten Stunden dachte Vasari an Michelangelo. Bald würde er ihm gegenübertreten und eingestehen müssen, dass es auch ihm nicht gelungen war, den Dom, geschweige denn die Kuppel fertigzustellen. Nach seiner tiefen Überzeugung würde er in den Himmel gelangen, dorthin, wo Michelangelo und Raffael bereits waren. Bei Bramante und Leonardo war er sich nicht so ganz sicher.
Am 27. Juni 1574 starb an Entkräftung der Maler und Architekt Giorgio Vasari. Es heißt, er habe gelächelt.
Epilog
Im Mai 1590, sechzehn Jahre nach dem Tod Vasaris, setzte sein Nachfolger Giacomo della Porta den Schlussstein für die Kuppel des Himmels. Allerdings ohne das Oculus. Niemand verstand mehr Michelangelos eigenartige Idee, die Kuppel in einem großen Lichtloch wie die Speichen eines Rades in der Leere der Nabe zusammenlaufen zu lassen. Die Ideen des Göttlichen über die Lichtführung, über Gottes direkte Schau auf sein Volk im Dom begriff ohnehin niemand mehr. Längst hatten die Baumeister die Gedanken von Dante und Ficino, Pico und Landino vergessen, auch Leonardo, auch Bramante und auch Michelangelo.
Schließlich behaupteten sich die Gegner des Zentralbaus gegen Bramantes und Michelangelos Pläne. Unter Papst Paul VI. wurde der Architekt Carlo Maderno angewiesen, vor dem Zentralbau einen Langbau zu errichten. Im Jahre 1612 wurde schließlich die Fassade des Langhauses vollendet, das man dem Zentralbau voranstellte. Die Kuppel des Himmels aber wurde von der neuen Basilika des Petrus in Gefangenschaft genommen.
Ob der Bildhauer und Architekt Gianlorenzo Bernini den Fedeli d’Amore angehörte, ob der Bund zu dem Zeitpunkt, als er den Petersplatz mit den antiken Säulenreihen, den Kolonnaden, der Welt öffnete, noch existierte oder mit ihrem letzten bekannten Prior Giordano Bruno im Jahre 1600 verbrannt worden war, lässt sich indes nicht mehr klären.
Über den Autor
Sebastian Fleming studierte Germanistik und Geschichte. Er schrieb für das Theater, den Rundfunk, das Fernsehen und Bücher zu historischen Themen. In der Verlagsgruppe Lübbe ist von ihm erschienen Arminius.