Statt einer Antwort warf Bramante ihr die Münze zu. Mit überraschender Geschicklichkeit fing sie diese auf und biss hinein.
»Ihr sucht einen schönen Mann!«, erklärte sie, nachdem sie sich von der Echtheit der Münze überzeugt hatte.
»Schön? Das bin ich auch«, entgegnete Bramante ungeduldig.
»Ihr? Verzeiht, aber nur für viel Geld würd ich Euch schön nennen! Der, den ihr sucht, der war jung. Hatte kastanienbraune Haare. Sie glänzten. Seine Augen wie der Himmel im Herbst. Das Gesicht gebräunt. Und schön wie ein Engel.«
Bramante zuckte zusammen. Er hatte das Gleiche gedacht, als er den Mörder verfolgte: ein Engel, ein Todesengel.
»Mehr nicht?«, fuhr er die Plünderin an.
Die Frau schüttelte den Kopf, schloss die Faust um die Münze und sah ihn trotzig an, fest entschlossen, ihren Lohn nicht wieder herzugeben. Bramante fühlte, wie sich die Enttäuschung seiner bemächtigte. Die Frau hatte ihm nicht gerade viel erzählt, aber sie hatte den Mörder ja nur einen kurzen Augenblick lang gesehen. Außerdem hatte sie durch Bramantes Einwirken ihren Mann verloren. Er warf ihr einen zweiten Scudo zu, wandte sich zum Gehen – und blieb wie angewurzelt stehen.
Gleich hinter der Haustür lag ein Buch mit goldenen Beschlägen. Als er ins Haus zurückgekommen war, hatte es sich zwischen Tür und Wand geschoben. Bramante hob das Buch auf und wischte mit dem Ärmel seines Gewandes den Schmutz ab. Er kannte das Buch. Es war eine Ausgabe von Dantes »Göttlicher Komödie« mit Landinos Kommentar, von der er auch ein Exemplar besaß.
Dann stutzte er, denn dieses Buch fühlte sich doppelt so dick an wie das seine. Er blätterte bis zum letzten Vers der Dichtung und fand seine Vermutung bestätigt. Ein zweites Werk war mit in den Ledereinband gebunden worden, genauso umfangreich wie Dantes Dichtung. Es handelte sich um eine Handschrift mit Symbolen, die er nicht zu deuten wusste und die er für Hebräisch hielt. Zumindest hatte er diese Zeichen schon einmal bei Juden gesehen.
Unter einem goldenen Schriftzug war ein runder Tempel abgebildet, rechts und links umrahmt von Brandopferaltären. Auf weiteren Seiten folgten schematische Darstellungen mit Rauten, Kreisen, Verbindungslinien und unbekannten Schriftzeichen. Mit beiden Händen konnte Bramante greifen, dass hier ein Geheimnis verborgen lag, aber leider würde es ihm nicht gelingen, es zu erkennen, denn er konnte die Zeichen nicht deuten. Dieser missliche Umstand war höchst bedauerlich, da ihn diese Darstellungen geradezu magisch anzogen, ohne dass er den Grund dafür zu nennen wusste. Dann aber stieß er auf ein Bild, das ihm auf andere Art naheging.
Die Erde war mit dem Himmel durch eine riesige Leiter verbunden, auf der die Menschen zu Jesus aufstiegen, der im Himmel wartete. So weit, so tröstlich. Doch der Aufstieg erschien gefährlich, denn schwarze, geflügelte Teufel, die wie Schattenrisse wirkten, fesselten die Aufsteigenden und rissen sie brutal von der Leiter herunter. Obwohl die Gesichter der kleinen Bösewichter nicht zu erkennen waren, verriet ihre Haltung den Triumph darüber, die armen Seelen als Gefangene mit sich zu führen.
Was Bramante vor sich sah, war eine Darstellung der Jakobsleiter, die den Aufstieg des Menschen zu Gott ermöglichte. Jeder Tempelbau, so hatte ihm Pico vor Kurzem noch erklärt, war ein Aufstieg zu Gott, deshalb betrat der Baumeister, wenn er mit dem Werk begann, die Jakobsleiter. Und aus diesem Grund war sie auch ein Symbol und ein Geheimzeichen für die göttliche Baukunst. Wer nicht mit ganzem Herzen und vollem Einsatz baute und nicht bereit war, für die großen Projekte notfalls sein Leben in die Waagschale zu werfen, der sollte bei Hütten und Verschlägen bleiben, der brauchte erst gar nicht zu versuchen, ein Architekt der Welt zu werden. Bauen war wie Krieg, man konnte siegen oder alles verlieren, sterben oder triumphieren. Und wie im Krieg und wie in der Liebe waren auch beim Bauen alle Mittel erlaubt. Es ging um sehr viel Geld, um großen Ruhm, um den Sieg über die gleichfalls zu allem entschlossenen Konkurrenten – und um die Ewigkeit.
Enthielt das Buch die Geheimnisse des Bauens? Des Lebens? Des ewigen Lebens gar? Bramante beschloss, einen Juden zu suchen, der ihm diese unbekannten Schriftzeichen übersetzen würde. Vielleicht fände er in dem alten Kodex auch das inzwischen verlorene Wissen darüber, wie man das Wunder einer so großen freitragenden Kuppel, wie sie das Pantheon in Rom überwölbte, erschaffen konnte!
Es stand für ihn außer Zweifel, dass Picos Mörder das Buch verloren hatte, als er sich aus seinem Klammergriff befreite, und dass es zuvor dem Grafen gehört hatte. Er ging hinaus zu seinem Pferd und verstaute den Band sorgfältig in den Satteltaschen. Dann saß er auf und warf dem verloren und einsam wirkenden Häuschen des toten Freundes einen letzten Blick zu. Er hatte geschworen, den Schurken zu finden, der ihn ermordet hatte. Und diesen Eid würde er nicht brechen.
Während er noch in einer Mischung aus Wut und Trauer durch die Straßen von Florenz ritt, reifte in ihm ein weiterer Entschluss: Er würde nach Rom gehen, um Picos Vermächtnis zu erfüllen und die Bauwerke der Antike auf der Suche nach dem göttlichen Architekturschlüssel zu vermessen.
7
Rom, Anno Domini 1505
»Beeil dich, Michelangelo! Julius ist der ungeduldigste Mensch, den ich kenne! Und seine Ungeduld kennt nur eine Form, sich zu äußern: Jähzorn! Das Alter hat ihn nicht milder gemacht, nicht geduldiger. Im Gegenteil! Alles muss rasch gehen! Schnell! Schnell! Morgen kann es schon zu spät sein. Hol der Teufel die Ungeduld!«
Grob stieß Giuliano da Sangallo seinen Schützling vor sich her aus der Tür. Dann stürmte er vorneweg, während der hagere junge Mann widerwillig hinterhertrottete und sich fragte, ob der Papst diese Eile überhaupt verdiente. Ein paar Schritte vor ihm war Sangallo stehen geblieben und wedelte ungeduldig mit der Hand.
»Wirst du endlich aufhören zu trödeln, Michelangelo!«, fuhr er ihn an, das Karpfengesicht rot vor Wut. Der junge Bildhauer befürchtete schon, der Schlagfluss könnte den väterlichen Freund treffen. Kein Zweifel, Sangallo sonnte sich in der Gunst des Papstes, aber er fürchtete ihn auch.
»Nun gut«, brummelte Michelangelo vor sich hin und beschleunigte seine Schritte ein winziges bisschen, »dann tu ich es eben für dich, aus reiner Freundschaft.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über die plumpe Nase.
Seinem Florentiner Landsmann, dem Architekten Giuliano da Sangallo, hatte er zu verdanken, dass endlich das Augenmerk des Papstes auf ihn gefallen war, dessen war sich Michelangelo bewusst. Denn obwohl Julius II. ihn nach Rom gerufen hatte und sogar für die Reisekosten aufgekommen war, hatte er den hoffnungsvollen jungen Mann vor den Kopf gestoßen, indem er ihn inzwischen schon fünf lange Wochen warten ließ. Michelangelo erwog bereits, in die Heimat zurückzukehren, als der Heilige Vater ihn endlich zu sich rief.
Der Bildhauer schwankte zwischen Aufregung und Zorn. Einerseits konnte diese Audienz den Anfang seiner Karriere in Rom bedeuten, andererseits hatte ihn der Papst Monate unwiederbringlicher Schaffenszeit beraubt. So jung Michelangelo an Jahren war, so glaubte er doch fest an sein Talent. Nachdem er dem Glück und der Liebe abgeschworen hatte, um sich ganz seiner Berufung zu widmen, fühlte er wenig Neigung, Respekt vor den hohen Herren dieser Welt zu empfinden, zumal er den einen oder anderen Erlauchten in seiner Heimat persönlich kennengelernt hatte. Dazu gehörten Piero, der ehemalige Herr von Florenz, den alle inzwischen höhnisch den Pechvogel nannten und der zu allem Überfluss unlängst auch noch in einem Rinnsal fern der Heimat ertrunken war, oder der Kardinal Giovanni de Medici, der inzwischen ebenfalls in Rom wohnte. Bei dem Gedanken, dass Giovanni eines Tages Papst werden könnte, verzog ein abfälliges Lächeln Michelangelos Lippen. Er rechnete aber nicht ernsthaft damit – zum Papst fehlte es dem jungen Kardinal, dem alles in die Wiege gelegt worden war, entschieden an Durchsetzungsfähigkeit. In seinen Augen war Giovanni de Medici ein guter Junge mit ein paar voyeuristischen Leidenschaften, und darin erschöpfte sich seiner Meinung nach die Persönlichkeit von Lorenzos zweitem Sohn.