Nein, der junge Bildhauer hatte keinen Grund, an seinem eigenen Adel zu zweifeln. Die Grafen von Canossa, auf die er seine Sippe zurückführte, waren älter als die Medici, die aus dem Apothekerstand hervorgegangen waren, und als die della Rovere ohnehin, eigentlich ligurische Bauern. Julius, der Papst, hatte als Kind noch Schafe gehütet.
Wichtiger als der Adel der Abstammung war ihm der des Künstlertums. Stand nicht seine Pietà im Petersdom? Ein Werk, das alles bis dahin Geschaffene in den Schatten stellte? Und schmückte nicht sein David vor dem Palazzo della Signoria den Hauptplatz der Republik Florenz? Am Vertrauen in sein Können mangelte es ihm nicht. Er würde ein noch größerer Künstlerfürst werden als Leonardo da Vinci, der seine Zeit mit Lustknaben und metaphysischen Hirngespinsten vergeudete.
Nach zwei vergeblichen Anläufen, in Rom sesshaft zu werden, versuchte Michelangelo, beflügelt vom Erfolg des David, es nun ein drittes Mal. Diesmal sollte es, diesmal musste es gelingen. Seit Giuliano della Rovere als Julius II. die Cathedra Petri bestiegen hatte, verstand es sich von selbst, in Rom zu arbeiten, wenn man in der Kunst etwas gelten wollte. Und hatte er etwa nicht das Zeug dazu, ein Messias der Kunst zu werden? Wer, wenn nicht er?
So trat Michelangelo in den Iden des März zur Mittagsstunde auf die Terrasse des päpstlichen Palastes. Der Frühling kam noch etwas kühl daher, und ein kalter Wind aus Nordost fuhr Michelangelo und seinem Begleiter in die Kleider.
»Schau, da ist Kardinal Alidosi«, sagte Sangallo und wies auf einen kleinen Mann, der sich seit Michelangelos Ankunft in Rom im Hintergrund liebenswürdig um ihn gekümmert hatte. Er stand neben dem hünenhaften Papst und sprach auf ihn ein. Fünf Kardinäle und drei Bischöfe, die Michelangelo nicht kannte, umgaben die beiden, jederzeit bereit, in das Gespräch einzugreifen, so man sie denn gelassen hätte. Allein, der Papst beachtete die Höflinge nicht.
Mit einem Mal hatte Michelangelo das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete. Er verfolgte den Blick durch die Gruppe der Kirchenfürsten hindurch und entdeckte hinter ihnen einen Mönch im Habit der Predigerbrüder, etwa in seinem Alter, der ihn unverhohlen aus großen schwarzen Augen anstarrte und seinem Blick standhielt. Das Gesicht mit dem Oliventeint gefiel Michelangelo, die ausdrucksvollen Augen zogen ihn in ihren Bann. Was für ein hübscher Mönch, dachte er. Nach einer Weile jedoch bereitete ihm der Blick des jungen Geistlichen, der ihn ununterbrochen ansah, Unbehagen, wobei er weder den tieferen Grund der Beklemmung noch deren Art zu bestimmen wusste. Verunsicherte ihn das Interesse des Dominikaners an seiner Person, oder irritierte ihn sein eigenes Interesse an dem Predigerbruder?
Der junge, starke Körper des Fremden strahlte trotz des Mönchsgewandes, das er zu sprengen schien, obwohl es locker um seinen Körper hing, eine unübersehbare Sinnlichkeit aus. Es war die Aura seines Fleisches, die Spannung seiner Muskeln und Sehnen, die Michelangelo empfand. Auf unerklärliche Art fühlte er sich zu dem Fremden hingezogen. Er hatte große Lust, ihn zu malen oder zu skulptieren. Der Dominikaner wirkte durch und durch männlich. Dennoch veredelte ihn ein femininer Zug, wenngleich Michelangelo nicht hätte sagen können, worin das fast ätherisch Mädchenhafte seiner Erscheinung lag. Ein Engel, dachte er. Aber so ernst, so kühl – wie ein Todesengel.
Verwirrt floh sein Blick von der Terrasse aus den Hügel hinauf zum Palazzo Belvedere. Rechter Hand arbeitete eine Gruppe von Maurern an einem Gebäude, das wie ein Korridor den Vatikanpalast mit dem Palazzetto verbinden sollte, damit der Papst nicht mehr über den Hof gehen und dabei die lästigen Treppen überwinden musste, sondern direkt von seinen Gemächern auf gerader Ebene zum kleinen Palazzo hinübergelangen konnte. Michelangelo wusste, dass der Auftrag Bramante zugeschlagen worden war, der alle wichtigen Bauvorhaben in Rom betreute. Für Sangallo blieb nur übrig, was der große Baumeister verschmähte. Doch auch das genügte, um einen Mann reich zu machen, wenn man es richtig anstellte. Aber daran konnte bei seinem väterlichen Freund, der alle Tricks und Kniffe des Bauens beherrschte, kein Zweifel bestehen. Michelangelo neigte sich zu ihm und erkundigte sich flüsternd nach dem Mönch.
»Giacomo Kardinal Catalano, der Erzpriester von Sankt Peter. Ein wichtiger Mann«, erklärte Sangallo.
»Hat man so was schon gesehen? Ein Kardinal im schlichten Mönchshabit?« Michelangelo wollte es kaum glauben.
»Eine Marotte von ihm.«
»Wie jung er noch ist!«
»Pius III. hat ihn in seiner kurzen Amtszeit als Kardinal kreiert. Und Julius hat Gefallen an dem Mann gefunden, obwohl er der Anführer der Zelanti ist. Vorsicht, Michelangelo, der Mann ist ein Fanatiker.«
»Der Fanatismus steht ihm gut«, sagte der Bildhauer mehr zu sich selbst und beobachtete im gleichen Augenblick, dass Alidosi dem Pontifex, dessen kräftiges weißes Haar hell unter der roten Kappe hervorleuchtete, etwas zuraunte. Mit einer geschmeidigen Bewegung wandte sich der Stellvertreter Christi um und musterte Michelangelo mit einem abschätzenden Blick, bevor er mit weiten Schritten auf ihn zukam, Alidosi im Gefolge. Die Höflinge, die sich verzweifelt bemühten, mit dem Papst Schritt zu halten, boten in ihren fliegenden Gewändern einen ausgesprochen erheiternden Anblick.
Der Bildhauer wollte sich schon verneigen, doch Julius ergriff sogleich seine Hand. In seinen Bewegungen und Gesten wirkte der ältere Mann erstaunlich jung. Michelangelo musste zu dem Papst aufblicken, der auch ihn überragte.
»Willkommen, alter Freund«, sagte Julius, an Sangallo gewandt, bevor er seine Aufmerksamkeit auf den jungen Künstler richtete. »Ah, Messèr Michelangelo. Schön, dass du Uns endlich besuchst. Hast du schon eine Unterkunft in Rom gefunden?«
Endlich und schon ist gut, dachte der Bildhauer ärgerlich, antwortete aber für seine Verhältnisse ausgesprochen zurückhaltend: »Ja, Heiliger Vater. Ich wohne hinter der Kirche Santa Caterina.«
»Ah, bei der Piazza Rusticucci. Ganz in Unserer Nähe also.«
»Vom Passetto könntet Ihr direkt in meine bescheidene Werkstatt springen.«
»Und Uns beide Beine dabei brechen? Besten Dank, Herr Bildhauer. Aber vielleicht lassen Wir Uns eine kleine Fallbrücke bauen, um dich leichter besuchen zu können.«
Michelangelo blickte zu Boden. Die Vorstellung, dass Seine Heiligkeit ohne Vorwarnung, geradezu wie vom Himmel gefallen, plötzlich in seiner Werkstatt stehen könnte, behagte ihm gar nicht. Aber er hatte seine Lektion gelernt und würde künftig seinen Humor im Zaum halten, denn dieser Papst war imstande, selbst das absurdeste Scherzwort mit Leben und Tat zu erfüllen, wenn es seine Stimmung traf und seine Vorstellung beflügelte. Er fasste sich wieder bei dem Gedanken an seine Pietà, die nur wenige Schritte vom Papstpalast entfernt in der Petronillakapelle von Sankt Peter stand. Michelangelo wusste, dass Kardinal Alidosi dem Stellvertreter Christi diese Skulptur gezeigt hatte.
Als er wieder aufsah, hatte sich die Miene des Papstes verändert. Lauernd sah er den jungen Bildhauer aus leicht zusammengekniffenen Augen an.
»Wie steht es mit Aufträgen?«
»Ich habe mich für Euch freigehalten, Heiliger Vater.«
Auf dem energischen Gesicht von Julius II. erschien ein zufriedenes Lächeln. »Das wirst du nicht umsonst getan haben.« Er legte ihm als Ausdruck seines Wohlwollens die Hand auf die Schulter und fuhr fort: »Die Menschen, mein junger Freund, begreifen nur, was sie sehen. Deshalb müssen wir den Glauben und die siegreiche Kirche verbildlichen, alles, was uns wichtig ist, damit die Menschen es empfinden und durch das Empfinden auch verstehen können. Viele Menschen vermögen nicht zu lesen, aber Bilder und Skulpturen kann jeder betrachten. Sie sprechen direkt zu den Herzen!«