Alles an Landino strahlte einen geistigen Adel aus, das fein geschnittene Antlitz, der schmale, zerbrechlich wirkende Kopf, die Haare aus grauweißem Samt. Michelangelo ertappte sich dabei, dass er unwillkürlich den Atem anhielt, um auch ja nichts von der Entgegnung des Dichters zu versäumen. Er spürte, dass es bei diesem Disput um ihn ging.
»Ganz und gar nicht, verehrter Cristoforo, denn Kunst soll die Natur übertreffen, ja soll sogar eine zweite, eine neue Natur schaffen – natura naturans –, die Natur des Himmels – natura coelestis –, und nicht die der Erde«, verkündete Poliziano mit vortragsgewohnter Stimme.
»Und das, was uns dazu befähigt, ist die Schönheit?«, warf Michelangelo ungefragt ein, obwohl er weder mit der natura coelestis noch mit der natura naturans etwas anfangen konnte.
Poliziano blickte ihn nachsichtig lächelnd an. »Ja, mein Junge, aber vergiss nicht die irdische Natur, natura terrena.«
Plötzlich verstand Michelangelo. Es sprudelte nur so aus ihm heraus. »Erst wenn wir die vollkommene Nachahmung der Natur beherrschen, sind wir frei dafür, die Schönheit zu erschaffen, deren Erkenntnis uns über die Natur hinaus zur Kunst erhebt. Etwa so, Messèr?«
»Denn alle Kunst ist nur die Erinnerung an die göttliche Harmonie. Aber nichts führt zu ihr außer dem Studium der Natur. Per aspera ad astra – durch das Raue zu den Sternen!« Der Dichter blinzelte zufrieden, während ihm Lorenzo anerkennend auf die Schulter schlug.
»Der vollkommene Lehrer. Ich glaube, Agnolo, du hast unserm kleinen Bildhauer die Augen geöffnet.«
Doch Contessina gab sich immer noch nicht geschlagen.
»Wenn Ihr, Messèr Zähnebrecher, das Studium der Natur bewältigt habt, sagt mir Bescheid, dann können wir uns um die Schönheit kümmern«, sagte sie und schaute Michelangelo dabei in die Augen.
»Musik!«, rief Lorenzo. »Wir wollen weitertafeln. Und du, junger Buonarroti, setzt dich zwischen meine Söhne Piero und Giovanni, da ist noch ein Platz frei.«
Michelangelo wollte der Aufforderung schon nachkommen, als Lorenzo ihn zurückhielt. »Hüte dich vor Piero, wenn er dir Schweinereien ins Ohr flüstert«, sagte er leise. »Und was du hörst, gib nicht an Giovanni weiter, er ist nämlich Kardinal.« Dann ließ er ihn gehen.
Zwei Musiker begannen ihre Laute zu schlagen, während ein Flötist und zwei Posaunisten in ihre Instrumente bliesen, dass man sich ängstigen konnte, die Männer würden vor Eifer jeden Augenblick zerplatzen. Endlich entkam Michelangelo der Aufmerksamkeit der Gesellschaft und verfügte sich an den ihm zugewiesenen Platz.
Die Pavane mit ihren kräftigen Akkorden trug Frohsinn in die Herzen der Anwesenden. Michelangelo schaute zu Contessina, die am anderen Ende der Tafel zwischen ihren Eltern saß. Nach der kurzen Tanzmelodie zupfte ein Lautist ein Madrigal, zu dem er innig Verse sang, die von Angelo Poliziano stammten:
»Die Nymphe, der mein Herz entgegeneilte,
erschien mir dort im reinsten Glanze,
so wunderhold beim Tanze –
mir war’s, als wenn ich
schon im Paradiese weilte …«
Michelangelo hatte sich kaum zwischen den beiden Söhnen Lorenzos niedergelassen, da stupste ihn Giovanni an.
»Kannst du auch zeichnen?«, fragte er flüsternd.
Michelangelo nickte.
»Richtig? Ich meine, nach der Natur?«
»Was immer Ihr wollt, Eminenz.«
»Gut, gut, sehr gut, ich liebe nämlich Bildchen. Und lass das ›Eminenz‹ künftig weg! Das ist nur fürs Volk, ach ja, und für die Tölpel in Rom!«
Piero, der das leise Gespräch belauscht hatte, brach in lautes Gelächter aus.
»Vor allem liebt mein heiliger Bruder die Abbildungen, die nach der üppigen Natur gemalt sind. Lästere also nicht Gott, indem du ein Detail, das der Allerhöchste mit Liebe an den Frauen geschaffen hat, vernachlässigst, einfach weglässt oder sogar verkleinerst. Es soll alles in seiner wahren Größe oder vielleicht sogar noch etwas größer zu sehen sein«, brachte er, von Lachen geschüttelt, hervor.
Michelangelo warf dem ältesten Medici-Sohn einen fassungslosen Blick zu. Bestimmt hatte er ihn falsch verstanden. Piero stöhnte über so viel Naivität.
»Verstehst du? Meinem Bruder, dem Kardinal, reicht die Jungfrau in der Kirche, außerhalb der heiligen Mauer ist Jungfräulichkeit nur hinderlich.«
»Und du, Piero, was liebst du?«, fragte Michelangelo, bemüht, das anstößige Thema zu wechseln.
»Ach, weißt du, ich muss nicht den Umweg über die Malerei nehmen. Ich liebe die saftigen Körper, das Geschlecht, das, womit uns Gott begabt hat, ohne uns zu lehren, wie wir den rechten Gebrauch davon machen können. Deshalb müssen wir es selbst erproben, du verstehst schon, all die modi und conjunctiones, bis wir es endlich wissen. Und das braucht sehr viel Zeit und noch mehr Erfahrung. Deshalb dürfen wir auch nicht im Tun erlahmen.«
»Bedaure, aber ich versteh kein Latein«, warf Michelangelo vorsichtig ein.
»Verzeih, ich meine in vulgo die Stellungen und Vereinigungen. Von oben, von unten, von hinten, von vorn, von der rechten Seite, von der linken Seite … Ach, ich liebe einfach Gottes Vielfalt! Schon verrückt, was man mit dem kleinen Kerl so alles anstellen kann!«
Michelangelo war noch dabei, Pieros Antwort zu verdauen, als Giovanni ihn wiederum anstieß und anzüglich grinste.
»Du malst mir doch die Bildchen, ja? Streng nach Gottes Natur! Auf denen man auch alles hübsch erkennen kann, wie in der Heiligen Schrift!«
Prustend schlug Piero dem jungen Bildhauer derb auf den Rücken. »Hast du es endlich kapiert? Mein Bruder finanziert dir deine Studien, er will dafür nur die Resultate!«
»Keine Zoten bei Tisch!«, erklang plötzlich Lorenzos Stimme in ungewöhnlicher Lautstärke, der die jungen Männer am anderen Ende der Tafel nicht einen Augenblick aus den Augen gelassen hatte.
Ihm entgeht nichts, dachte Michelangelo voller Bewunderung und nahm sich vor, von Lorenzo zu lernen. Piero schlug demütig die Augen nieder. »Nein, Vater, natürlich nicht. Wir sprachen nur über Natur und Kunst!«
»Ich hoffe nur, dass du die Natur nicht mit der Pornografie verwechselst!«, sagte Lorenzo und blitzte seinen Sohn kurz an, zum Zeichen, dass er ihm nichts vormachen konnte. Dann widmete er sich freundlich und entspannt, so, als ob nichts gewesen wäre, seinen Gästen zur Linken, während Clarice ihr Geplauder mit jenen zur Rechten wieder aufnahm. Contessina warf ihren Brüdern einen kurzen, schadenfrohen Blick zu und verbarg ihr spöttisches Lächeln sogleich hinter vorgehaltener Hand. Einzig den kleinen Giuliano, der links neben seiner Mutter saß, hatte das Geplänkel unbeeindruckt gelassen. Er war vollauf damit beschäftigt, im Wettstreit mit dem Hofnarren, dem alten Buffaldo, Grimassen zu schneiden.
Zu seinem Entsetzen entdeckte Michelangelo auf seinem Teller Garnelen. »Wie isst man denn das?«
»Ich zeige es dir«, beruhigte ihn Piero. »Du musst die Schalen aufbrechen, so, schau her!« Lorenzos Kronprinz nahm das Schalentier in die Hand und brach es auseinander, dass ihm das Öl von den Händen troff. Genießerisch schloss er die Augen, schob das rosafarbene Fleisch in seinen Mund und kaute mit einem entrückten Lächeln. »Nach einem Pfund Garnelen könnte ich alle Novizinnen eines Klosters begatten. Einfach so, eine nach der anderen, das sag ich dir!«
»Und die sind besonders ausgehungert«, fügte seine Eminenz Giovanni de Medici hinzu.
»Junger Buonarroti, höre!« Michelangelo schaute nach rechts, um zu sehen, wer das Wort an ihn gerichtet hatte. »Komm morgen zu mir, ich habe etwas für dich!«, fuhr Landino fort.
»Und was wäre das?«, fragte Michelangelo voller Neugier.
»Etwas, das du in deinem Leben brauchen wirst wie nichts anderes.«
Mit seinen im Kerzenlicht glühenden Augen und dem scharf geschnittenen Gesicht kam er Michelangelo vor wie ein Magier aus alter Zeit. Bevor er nachfragen konnte, hatte sich Landino wieder in seine Unterhaltung mit Angelo Poliziano vertieft. Michelangelo wusste nicht, was er davon zu halten hatte. Fragend blickte er erst Giovanni, dann Piero an. Aus den Blicken der Brüder sprach nichts als Respekt, obwohl dieser wahrlich nicht zu den Disziplinen gehörte, in denen sie sich üblicherweise hervortaten.