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»Du solltest hingehen«, riet ihm Piero. »Cristoforo prahlt nicht.«

»Und er lässt nicht jeden in sein Gehäuse. Nur Papa und Contessina. Nicht einmal ich darf ihn besuchen«, nörgelte Giovanni. »Und dabei bin ich Kardinal.« Schmollend schob er seine volle Unterlippe vor und rollte die Augen.

10

Florenz, Anno Domini 1491

Verschwitzt und verstaubt von seinem Tag als Bildhauerschüler machte sich Michelangelo am nächsten Abend gleich nach dem Unterricht bei Bertoldo auf den Weg zum Palazzo der Medici. Auf seiner Haut lag eine feine Schicht aus weißem Marmorstaub, sodass er einem Bäckerjungen glich, der in der Backstube zu viel mit Mehl gearbeitet hatte. Ein Diener im Palazzo di Medici wies ihm sogleich den Weg zum Studierzimmer des Philologen. Er atmete auf und wurde zugleich unruhig: Er wurde erwartet!

Vor der glänzend polierten Eichentür, hinter der sich die Räumlichkeiten des Dichters befanden, fuhr sich Michelangelo noch einmal durchs Haar und hob die Hand, um anzuklopfen. Doch Contessinas zornige Stimme, die an sein Ohr drang, ließ ihn mitten in der Bewegung innehalten.

»Nein, nein und nochmals nein!«, hörte er sie ausrufen. »Eine reinere Liebe gibt es nicht, hat es nie gegeben und wird es auch künftig nicht geben!«

Michelangelo vernahm zwar das geschmeidige Brummen von Landinos Stimme, als dieser darauf antwortete, konnte jedoch nicht verstehen, was der Dichter sagte. Von einer brennenden Neugier erfasst, legte er sein Ohr an die Tür und lauschte angestrengt.

»Mitten ins Paradies müsste er sie versetzen, anstatt sie zu bestrafen! Aber in die Hölle? Hat man so etwas je gehört?«, ereiferte sich Contessina, und wieder entging dem jungen Mann Landinos Erwiderung. Da er ohnehin nur den einen Teil des Streitgesprächs verstand, lohnte das Lauschen nicht. Er klopfte an.

»Herein!«, rief Landino mit seiner feinen Baritonstimme.

Der Raum, den Michelangelo betrat, war in Zwielicht getaucht. Hohe Bücherregale, in denen sich Kodizes und Inkunabeln drängten, bedeckten die Wände. Staubkörnchen tanzten in dem Licht, das in einzelnen Strahlen durch die kleinen, durchbrochenen Fenster drang. Ein leichter Duft nach altem Leder und stockigem Papier stieg ihm in die Nase. Vor den Fenstern stand das breiteste Stehpult, das er je gesehen hatte. In der Mitte des Raumes stand ein alter Tisch mit deutlich malträtierter Platte und vier einfache Holzstühle. Dort saßen Contessina und ihr gegenüber Landino vor einem aufgeschlagenen Buch.

Als Michelangelo eintrat, hieß ihn Landinos freundlicher Blick willkommen. Contessina jedoch beachtete ihn nicht weiter, sondern setzte ihre leidenschaftliche Schimpfrede fort.

»Dafür, dass er Francesca und Paolo in die Hölle versetzt, würde ich diesen Dante am liebsten fünfmal in die nächste Jauchegrube tauchen«, rief sie und funkelte Michelangelo an. »Oder was meint Ihr, Zähnebrecher? Werden die Liebenden zu Recht im zweiten Kreis der Hölle gequält?«

Michelangelo schlug die Augen nieder, er hatte nicht die geringste Ahnung, worüber sie sprachen, und fühlte sich, als stünde er barfuß auf einem Rost, unter dem ein Feuer brannte.

»Meine liebe Contessina«, unterbrach Landino seine Schülerin, »wir sollten unseren Gast erst einmal begrüßen, bevor wir ihn in unseren kleinen Streit hineinziehen.«

Das Mädchen verzog unwillig das Gesicht, was ihr in Michelangelos Augen einen zusätzlichen Reiz verlieh.

»Ja, gelobt sei Gott, da seid Ihr, Messèr Zähnebrecher! Nun seid begrüßt, willkommen geheißen und allerliebst empfangen, verzeiht, dass ich die Fanfarenbläser nicht bemüht habe. Nehmt indessen meine gute Absicht für die Tat«, sagte Contessina mit der ihr eigenen spöttischen Art. Dann fuhr sie lauter fort: » Aber jetzt antwortet endlich, wenn Ihr nicht als tumber Klotz gelten wollt! Hat Dante die Liebenden zu Recht in die Hölle versetzt, oder irrte der große Dichter?«

Während sie gesprochen hatte, war sie immer näher auf ihn zugetreten und sah ihm jetzt forschend in die Augen. Ihr Blick war hart und fordernd, unmöglich, sich ihm zu entziehen. Die Flammen unter Michelangelos Füßen züngelten immer höher und strichen nun wie die Zinken eines glühenden Kamms über seine Fußsohlen. Er wünschte sich nur fort, ganz gleich, an welchen Ort, nur weg aus dieser für ihn mehr als schmachvollen Situation. Er hatte zwar Lesen und Schreiben gelernt, aber dann seine Zeit mit Schnitzen, Zeichnen, später mit Malen und Bildhauen verbracht. Mit Büchern, die zudem viel Geld kosteten, hatte er sich bislang keine Stunde beschäftigt.

Als könne sie diese Gedanken in seinen Augen lesen, glitt langsam ein hämisches Lächeln über Contessinas Gesicht, das sich schließlich zu einem lauten Lachen steigerte.

»Ihr kennt sie nicht, stimmt’s? Ihr kennt Dantes ›Göttliche Komödie‹ nicht! Oder? Ihr kennt sie einfach nicht!« Sie genoss es sichtlich, eine peinliche Bildungslücke bei ihm entdeckt zu haben, und lachte ihn triumphierend aus.

»Verzeiht, Madonna, aber ich beherrsche kein Latein«, sagte er kleinlaut.

»Gott, wie dumm Ihr seid! Es ist doch nicht in Latein verfasst, sondern in gutem Toskanisch«, lachte sie. Dann hielt sie plötzlich inne und musterte Michelangelo nachdenklich. Zum ersten Mal, seit sie sich begegnet waren, nahm ihr Gesicht einen ruhigen Ausdruck an. So hatte er sie noch nicht gesehen. Von einem Augenblick zum anderen schlug sie die Augen nieder und sah zu Boden. Ihre ganze Erscheinung wandelte sich zu einem Bild der Demut. Mein Gott, wie schön sie ist, durchfuhr es Michelangelo. Zu seinem Erstaunen verursachte ihm dieser Gedanke einen körperlichen Schmerz.

Contessina strich sich mit ihrer zartgliedrigen Hand über die Stirn und neigte leicht den Kopf. »Verzeiht mir, aber ich vergaß, dass wir von klein auf mit klugen Männern wie Messèr Christoforo, Messèr Marsilio und Messèr Agnolo Umgang hatten. Was nicht unser Verdienst ist, sondern der Großzügigkeit unseres lieben Vaters zu verdanken«, sagte sie leise und deutete einen Knicks an. Das sanfte Rot, das flüchtig ihre Wangen streifte, bezauberte und verwirrte Michelangelo. Ein Engel, dachte er, wie von Giotto gemalt. Ach, Giotto – gegen Gott, der dieses Mädchen geformt hatte, konnte auch er nur als Stümper gelten, obwohl er der Beste von allen war.

»Es ist an mir, Madonna, mich für meine Unbildung zu entschuldigen. Verzeiht, verzeiht«, brachte er stotternd hervor.

»Ich habe meine Bildung geschenkt bekommen, lasst sie uns deshalb teilen. Ich bitte Euch darum!«, sagte Contessina.

»Obwohl ich das Geschenk gern annehmen würde, ist es doch zu groß für mich. Ich würde auf ewig Euer Schuldner sein.«

»Wäre das so schlimm? Aber Ihr irrt. Erst wenn ich die Gabe teile, wird sie mir ganz gehören. Erst dann habe ich sie nicht nur empfangen, sondern auch verdient.«

Michelangelo wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. Zwiespältige Gefühle übermannten ihn: Ebenso sehr, wie er ihrer anspruchsvollen Gegenwart zu entfliehen wünschte, mochte er sie keinen Augenblick missen. Landino trat zu einem der Regale, entnahm ihm ein kostbar eingebundenes Buch und schlug es auf.

»Schau, dies ist Dantes ›Göttliche Komödie‹, mit meinem Kommentar versehen«, sagte Landino und fuhr mit dem Zeigefinger die Zeilen auf der Titelseite nach, die mit schwarzen, kunstvoll ineinander verflochtenen Rosen geschmückt war. Dann schloss er behutsam den Deckel des Buches und überreichte es Michelangelo.