»Behalte es. In diesem Buch findest du alles, was du in deinem Leben brauchst.«
»Nicht in der Bibel?«
»Ja, natürlich, da auch«, sagte Landino mit einem schwer zu deutenden Lächeln.
Michelangelo musterte das Buch von allen Seiten, dann fuhr er mit seinen Fingerspritzen über die hervorstehenden Buchstaben auf der Rückseite.
»›F.S.K.I.P.F.T‹. Was bedeutet das?«
»Es sind die Initialen der Tugenden: Fides, Spes, Caritas, Justitia, Prudentia, Fortitudo, Temperantia …«
» … Glaube, Hoffnung, Liebe, Gerechtigkeit, Weisheit, Stärke, Mäßigung«, übersetzte Contessina.
Michelangelo schlug das Buch auf. Beim Anblick der zahlreichen kunstvollen Abbildungen stockte ihm der Atem. Er begann zu ahnen, wie wertvoll dieses Geschenk war.
»Ist das wirklich nur ein Buch oder das Auge der Medusa? Jedenfalls hat es Euch, so scheint es, versteinert«, spottete Contessina – zum ersten Mal gutmütig – und riss ihn aus seinen Gedanken. Dann verabschiedete sie sich, um sich für die abendliche Mahlzeit umzukleiden.
»Ein wenig Wasser und ein frisches Hemd würden auch Euch, mein lieber Zähnebrecher, guttun«, rief sie ihm lachend über die Schulter zu.
Michelangelo sah ihr wehmütig nach. Mit einem Schlag wurde es dunkler, und das Allerheiligste, als das der Raum ihm beim Betreten erschienen war, wirkte nun trist und deprimierend.
Landino räusperte sich. »Junger Freund«, sagte er leise, »sie ist ein Göttergeschöpf, oh ja, und ich glaube auch, dass sie dich mag, aber hänge nicht dein Herz an sie, sie ist eine Medici.«
Schamesröte überzog Michelangelos Gesicht, weil er sich durchschaut fühlte. Sein Stolz gab ihm ein, zu protestieren und zu leugnen, aber er wusste, dass der alte Mann recht hatte. Er nahm sich vor, künftig mehr Vorsicht walten zu lassen, wenn er Contessina in der Öffentlichkeit begegnete. Aber sein Herz würde von nun an wund sein.
»Eine Waschgelegenheit befindet sich im Nebenraum, und Signora Landino hat bestimmt noch ein sauberes Hemd für dich«, sagte der Lehrer und fügte hinzu: »Wenn du möchtest, kannst du an unserer täglichen Dante-Lektüre teilnehmen. Lass es dir gesagt sein: Auch von dir handelt das große Gedicht.«
Für Michelangelo brach die glücklichste und aufregendste Zeit seines Lebens an. Lorenzo de Medici hatte mit seinem Vater abgesprochen, dass er im Palazzo de Medici wohnen durfte, um an Landinos Unterricht teilzunehmen.
Den Tag über erlernte er bei Bertoldo die Bildhauerei und versuchte sich in der Arbeit am Material, am späten Nachmittag begab er sich zu Landino und studierte Dante mit ihm – und mit Contessina. Zuweilen neckte ihn die Medici-Tochter mit schelmischem Lächeln, gleich darauf fuhr sie ihn an oder verbarg ihre Gefühle hinter einem spöttischen Scherz.
Die Sonntagnachmittage verbrachte Michelangelo fast ausnahmslos mit dem Zeichnen nach Modellen, denn ausgerechnet am Tag des Herrn schleppte ihn Piero stets in ein Bordell, damit er für Giovanni die »Bildchen« verfertigen konnte. Dann ließ ihn der älteste Medici-Sohn in einem Verschlag mit Fenster zurück und schickte eine üppige Schönheit zu Michelangelo, während er selbst verschwand, um ihn Stunden später wieder abzuholen.
Das zweifelhafte Umfeld, das Gekreische, Gelächter und Gestöhne, das sich in den Gängen sammelte, machten ihm indes nichts aus. Sobald er zu skizzieren begann und sich in das Studium des menschlichen Körpers vertiefte, vergaß er alles um sich herum. Die nackten Frauen lösten bei ihm nur das professionelle Interesse des Malers aus, aber kein körperliches Verlangen. Später engagierte Piero auch zusätzlich einen Mann, damit Michelangelo die verschiedenen Stellungen abzeichnen konnte. Der entzückte Giovanni sammelte die Skizzen und klebte sie in ein Buch, auf das er in großen Lettern »Il Modi« geschrieben hatte. Die reinen Aktstudien hingegen kamen in ein Buch mit der Aufschrift »Ignudi«.
11
Florenz, Anno Domini 1492
Ein paar Monate später sah Michelangelo eines Abends aus den Augenwinkeln, dass sich Contessina wie an vielen Abenden bei ihrer Mutter entschuldigte und von der Tafel erhob. Unauffällig zwinkerte sie ihm zu und hob kurz die rechte Hand, als wolle sie nur einmal den Arm ausstrecken. In den goldenen Knöpfen ihres roten Samtkleides spiegelte sich das Licht der Kerzen. Im Singsang der Gespräche, dem aufbrandenden Gelächter und dem fröhlichen Geklapper der Schüsseln und Teller, gegen das sich ein Lautenspieler mühsam durchzusetzen versuchte, bemerkte niemand die geheimen Zeichen. Michelangelo aber sah sie und wusste sie zu deuten: zweiter Stock, rechter Palastflügel.
Bebenden Herzens ließ er eine kleine Weile vergehen, bevor er sich mit gequältem Gesichtsausdruck erhob, als peinige ihn das Essen in Magen und Gedärmen. Piero de Medici, der das bereits hinlänglich kannte, warf ihm einen mitleidigen Blick zu.
»Dass du armer Kerl noch nicht verhungert bist, ist ein wahres Wunder. Kaum dass du sie aufgenommen hast, verlässt alle Nahrung schon wieder deinen Körper. Du musst zum Arzt, mein Freund. In deinen Innereien hockt ein furchtbarer Drache!«
Als Michelangelo aus dem Saal in den luftigen Flur getreten war, hätte jedermann Zeuge einer Wunderheilung werden können. Ein Lächeln vertrieb die zur Schau gestellte Leidensmiene, und der eben noch vor Leibschmerzen Gekrümmte stürmte die breite Treppe hinauf, bog rechts um die Ecke und lief auf Contessina zu, die seiner in einer dunklen Nische vor dem Arbeitszimmer ihres Vaters harrte.
»Endlich«, seufzte sie. »Endlich!«
Sie reichte ihm ihre schmalen Hände, die er mit seinen Händen umfing und andächtig küsste. Ihre Finger zierten goldene Ringe mit Perlen, Rubinen, Lapislazuli, Karneolen und anderen Schmucksteinen.
»Dieser ist fürs Gedenken, dieser fürs Verschenken, dieser fürs Bedenken, dieser für die Liebe …« Mit einem zärtlichen Lächeln zählte Michelangelo die Ringe ab, als Contessina ihm die rechte Hand vor den Mund legte. Dann zog sie einen Ring mit einer Perle vom Finger, legte ihn in seine Hand und drückte sie zur Faust zusammen.
»Dieser für die Liebe. Dass ich immer bei dir bliebe! Verreime dich nicht, mein lieber Zähnebrecher!«
Dann lachte sie auf, als wäre alles nur ein Scherz gewesen. Michelangelo, der nicht wusste, was er denken sollte, hielt ihr den Ring auf der ausgestreckten Hand hin. Contessina schob sie sanft zurück und schüttelte den Kopf, bis ihr die Locken ins Gesicht fielen.
»Vater hat es erlaubt!«, sagte sie dann. »Morgen Nachmittag darf ich mir in Begleitung meiner Amme und eines Hausdieners Masaccios Bilder in der Brancacci-Kapelle ansehen.«
Vor Freude klatschte sie laut in die Hände. Der Widerhall in dem großen, mit Marmor ausgekleideten Flur ließ die beiden jungen Leute zusammenfahren.
Kühle legte sich wie eine zweite Haut um Michelangelo, als er die Kirche betrat. Seine Schritte hallten in dem hohen Raum wieder. In der Kapelle des Felice Brancacci stieß Michelangelo auf ein paar Bildhauerschüler aus dem Medici-Garten, die sich im Zeichnen übten, darunter Pietro Torrigiani. Dieser sah von seinem Karton auf und funkelte Michelangelo mit einem bösen Lächeln an.
»Ah, die Götter steigen zum gewöhnlichen Volk herab«, höhnte er.
»Du jedenfalls wirst kein Bildhauer werden, und zeichnen kannst du auch nicht«, gab Michelangelo zurück.
Pietros Lächeln entglitt zu einer Fratze. Er stand auf und sein Körper straffte sich.
Michelangelo hörte Schritte hinter sich und wandte sich um. Zwischen ihrer Amme und einem kräftigen Hausburschen, von dessen Kopf ein safranfarbener Schleier bis auf die Schultern fiel, kam Contessina auf ihn zu. Er hätte sie unter Tausenden erkannt. Über einem schlichten weißen Kleid trug sie einen rosafarbenen, mit goldenen Sternen bestickten Mantel.
»Wollt Ihr so freundlich sein und mir die Bilder Masaccios kommentieren, Messèr Michelangelo?«, fragte sie, bemüht, ihre Stimme gelassen klingen zu lassen.