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Bevor Michelangelo antworten konnte, stand Pietro schon neben ihm und stieß ihn so grob zur Seite, dass er ins Stolpern geriet.

»Vertraut Euch besser mir an, Madonna! Ich glaube, dass es hier keiner mit mir an Erfahrung und Wissen aufnehmen kann!«, sagte Pietro mit einer von einem zweideutigen Grinsen begleitenden Betonung auf dem Wort Erfahrung. Dann blickte er drohend in die Runde, um jeden Widerspruch zu unterbinden, und nahm zufrieden zur Kenntnis, dass sich die anderen Bildhauerschüler wieder in ihre Zeichnungen vertieften. Er musterte Contessina mit schamlosen Blicken und kniff die Augen zusammen. Das soll wohl verführerisch wirken, dachte Michelangelo, der sich gefangen hatte und die Szene mit wachsendem Unbehagen beobachtete. Er zwang sich jedoch zum Abwarten, denn er durfte nicht riskieren, Contessina durch ein allzu eindeutiges Verhalten ins Gerede zu bringen.

»Seid Ihr nicht der Signore Hahn von neulich?«, wandte sich das Mädchen mit einem unschuldigen Lächeln an Pietro, der daraufhin feuerrot anlief.

»Ich erinnere mich immer noch daran, wie gut Ihr zu krähen verstandet! Wahrhaftig, an Aufgeblasenheit kann es niemand mit Euch aufnehmen, Messèr Hähnchen.«

»Und Ihr, Ihr gehört dem Geschlecht der Metze da an, Ihr alle!«, schrie Pietro, von Jähzorn übermannt, und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Masaccios Gemälde, das die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies zeigte.

»Entschuldige dich bei ihr, Hundsfott!«, schrie Michelangelo außer sich und stieß den Älteren und Größeren mit beiden Fäusten vor die Brust.

»Hast du ›Hundsfott‹ gesagt?«, knurrte Pietro.

»Ja, was sonst?«

Im selben Augenblick vernahm Michelangelo gefährlich nahe an seinen Ohren ein unangenehmes Knirschen, dann spürte er ein Feuer mitten im Gesicht, das unmittelbar ins Gehirn schoss. Erst nach und nach brachte er das trockene Geräusch mit dem Schmerz in Verbindung. Pietro hatte ihm mit einem Faustschlag das Nasenbein gebrochen. Blut strömte über sein Gesicht, und er sank auf den Kirchenboden.

»Ich kann nicht malen? Pah! Eben habe ich dich so gezeichnet, dass du dich ein Leben lang an meine Handschrift erinnern wirst!«, schrie Pietro über ihm, außer sich vor Wut.

Michelangelo spürte nur noch, wie er zu schweben begann. Dann wurde es dunkel um ihn herum.

Als er die Augen wieder aufschlug, blickte er in Contessinas besorgtes Gesicht. Im ersten Moment glaubte er, sich im Himmel zu befinden oder zumindest in einem sehr schönen Traum, doch dann holte ihn der stechende Schmerz in seinem Kopf unverzüglich in die Wirklichkeit zurück. Er stöhnte auf, nicht nur wegen der pochenden Wunde im Gesicht, sondern auch vor Glück. Leises Gemurmel zeigte ihm, dass sich noch andere Personen in dem Raum aufhielten, in dem er lag. Doch für ihn zählte nur das Mädchen. Contessina liebte ihn, das wusste er nun. Tief und aufrichtig, ebenso wie er sie liebte.

»Könnt ihr uns wohl für einen Moment allein lassen?«, bat sie freundlich, aber mit der befehlsgewohnten Stimme einer Tochter Lorenzos des Prächtigen. Ein Diener, die Amme und der Arzt, ein kahlköpfiger Mann um die fünfzig mit mächtigem Doppelkinn, verließen das Zimmer. Michelangelo, der Contessina immerfort ansehen musste, bemerkte, dass zwei der goldenen Sterne auf ihrem Mantel rot eingefärbt waren, wie überhaupt das zarte Rosa des Stoffes dunkle Flecke aufwies. War das sein Blut? Hatte sie versucht, ihn aufzufangen, damit er nicht auf dem harten Kirchenboden aufschlug?

»Der Arzt hat deine Nase geschient«, sagte Contessina, als die Tür sich wieder geschlossen hatte. »Du wirst sie in der nächsten Zeit nicht überall hineinstecken können, weil du vorsichtig sein musst.« Behutsam nahm sie seine Hand, die auf der spitzenbesetzten Bettdecke aus bernsteinfarbenem Samt lag. »Ach, mein Ritter, dieser Schuft hatte recht, er hat dich fürs ganze Leben gezeichnet, denn die Knorpel werden nicht mehr richtig zusammenwachsen. Deine Nase wird eingedrückt und klobig bleiben.«

»Stört dich das?«, brachte Michelangelo hervor und sah sie an.

»Nein, wie könnte es?«

»Dann stört es mich auch nicht, dann will ich meine zerschlagene Nase künftig wie eine Auszeichnung tragen!«

In den folgenden Wochen erfanden die beiden Liebenden immer neue Vorwände, um sich zu einem heimlichen Stelldichein treffen zu können. Bis zu dem Tag, an dem sich alles ändern sollte.

Es war später Nachmittag, als Michelangelo den Florentiner Dom betrat, um dort auf Contessina zu warten. In den vergangenen Tagen hatten sie sich bei Landino mit Vitruv beschäftigt. Contessina hatte Michelangelo aus dem Lateinischen übersetzt, was der römische Architekt zu den Rundtempeln, zu Kuppeln und Gewölben geschrieben hatte. Nach Vitruv musste der Bau von Gottes Häusern ebenso vollkommen sein wie der Kosmos, und es gab nichts Vollkommeneres als den Kreis. Michelangelo fühlte sich von diesen Gedanken angezogen, inzwischen glaubte er, dass sich die wahre Form der Kirche in einem Zentralbau unter einer Kuppel widerspiegele, die den Himmel symbolisierte. Landino bestärkte ihn mit der Bemerkung, dass Dante alle neun Himmel des Paradieses konzentrisch angeordnet hatte.

Am Tag zuvor hatte Michelangelo Contessina erklärt, dass Brunelleschis Kuppel einen zwar schönen, aber leider unvollkommenen Dom kröne, denn um perfekt zu sein, hätte dessen Grundriss nicht die Form eines lateinischen, sondern die eines griechischen Kreuzes aufweisen müssen.

»Sieh her«, hatte er gesagt und ein griechisches Kreuz auf einem Blatt Papier skizziert. »Wenn ich die Ecken der Kreuzarme verbinde, erhalte ich einen Kreis. Der Kreis wiederum ist das Symbol der Perfektion, der Vollkommenheit. In einem Rundbau verschwindet das Licht nämlich nicht im Langhaus wie in einem dunklen Loch, sondern dringt von allen Seiten zum Zentrum und bringt so den Raum zum Schweben.«

Contessina war das alles zu theoretisch gewesen, und so hatte er ihr versprochen, ihr seine Vorstellungen an Ort und Stelle zu erläutern.

Nun stand er unter der hohen weißen Kuppel des Florentiner Doms und wartete auf sie. Als sich endlich das mächtige bronzene Eingangstor öffnete und das Mädchen, von einer Aura aus Sonnenlicht umgeben, in die Kirche trat, eilte er voller Freude auf sie zu.

Doch Contessina wirkte verstört. Kaum dass er ihr gegenüberstand, brach es aus ihr heraus. »Es ist vorbei. Ich muss heiraten.«

»Heiraten? Wen?«

»Einen Grafen, irgendeinen Ridolfini.«

»Das kann doch nicht sein, das darf nicht …«, murmelte Michelangelo fassungslos.

Contessinas wandte ihm ihr tränenüberströmtes Gesicht zu. »Was haben wir denn gedacht, mein Liebster? Dass mein Vater dich jemals als Schwiegersohn akzeptieren würde? Früher oder später musste es so kommen!«

»Er wird es, er muss!«, presste Michelangelo hervor. »Ich spreche mit ihm.«

Sie sah ihn traurig an. »Willst du uns noch unglücklicher machen, als wir es jetzt schon sind?«

»Aber warum? Stamme ich denn nicht aus einer edlen Familie? Bin ich ein Niemand?«

»Für die Welt bist du niemand, auch wenn du für mich alles bist«, sagte Contessina sanft und schmiegte sich an ihn. »Aber mein Vater wird sein Versprechen halten, und dich wird er fortjagen. Ich will nicht, dass dir etwas zustößt. Das wäre das Schlimmste!«

Michelangelo stieß ein verzweifeltes Knurren aus. Er wusste, dass sie recht hatte.

»Warum sollte mein Vater mich mit einem Bildhauer vermählen?«, fuhr Contessina leise fort, wie um sich selbst zu überzeugen. »Er liebt die Kunst, ja. Aber über der Liebe zur Kunst steht seine Verpflichtung, als Oberhaupt der Medici den stato der Familie zu vergrößern. Verstehst du? An unserem Ansehen hängt unser Leben. Wenn es sinkt, werden unsere vielen Feinde über uns herfallen. Wenn sie keine Angst mehr vor uns haben, sind wir des Todes.«