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Wie gern hätte Michelangelo ihr widersprochen, doch die Stimme versagte ihm. Contessina nahm seine Hand und küsste sie. Er erschrak – das hatte sie nie zuvor getan.

»Es war ein schöner Traum, mein Zähnebrecher, mein Herzensbrecher. Auch hinter die schönste Geschichte setzt der Herr eines Tages sein Finis. Vielleicht sollten wir uns über das freuen, was wir haben durften.«

Michelangelo hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, um das, was jetzt kommen musste, nicht zu hören.

»Jetzt, wo ich versprochen bin, dürfen wir uns nicht mehr sehen«, sagte Contessina mit zitternder Stimme. Sie wandte sich ab und tat ein paar Schritte, dann wandte sie sich noch einmal zu ihm um und sah ihn an. Erst jetzt bemerkte er, dass sie ein schwarzes Kleid trug und keinen Schmuck angelegt hatte.

»Du hast recht, Michelangelo«, sagte sie ruhig, während in ihren Augen Tränen funkelten. »Die Kuppel hätte einen Rundbau verdient. So vollkommen wie das Himmelsgewölbe. Solltest du jemals bauen, dann errichte es, das vollkommenste Bauwerk der Welt, erschaffe es für unsere Liebe, denn sie war ein Stück vom Himmel … für mich.«

Mit diesen Worten wandte sie sich um und eilte so rasch aus dem Dom, als jage sie die Angst, dass die Liebe doch noch über die Vernunft siegen könnte, dass sie sich dem Vater widersetzen und mit dem Geliebten fliehen würde. Mit einem dumpfen Geräusch schloss sich die schwere Tür des duomo hinter ihr.

Wie betäubt stand Michelangelo im Dämmerlicht der Kathedrale und hob in seiner Verzweiflung den Blick, als wäre von oben Hilfe zu erwarten oder wenigstens Rat. Stattdessen überfiel ihn die Vorstellung, die Kuppel als Ganzes würde auf ihn niederstürzen und alles unter sich im Staub begraben.

Solltest du jemals bauen, hatte Contessina gesagt. Noch nie war ihm der Gedanke gekommen, Baumeister zu werden. Er hatte sich immer als Bildhauer gesehen, gelegentlich malte er auch. Aber Architekt? Immer noch starrte er in die weiße Kuppel hinauf, die nicht eingestürzt war. Er schwor sich und seiner verlorenen Liebe, eines Tages den Tempel der Liebe zu errichten. Vollkommen würde sich dieser über einem griechischen Kreuz in die Himmelskuppel erheben – mochte geschehen, was wollte! Das größte Bauwerk sollte es werden, das die Welt je gesehen hatte. Denn auch die Liebe in Michelangelos Herz war größer als alles, was es je auf Erden gab und geben würde.

Von diesem Tag an sah er Contessina nicht mehr. Seine Dante-Studien betrieb er allein mit Landino, und auch an der Abendtafel nahm Lorenzos Tochter nicht mehr teil. In aller Zurückgezogenheit bereitete sie sich auf ihre Hochzeit vor. Dann erreichte Michelangelo an einem Abend der kleine Brief von ihrer Hand.

»Lieber Zähnebrecher,

die Amme wird dich heute Nacht zu mir bringen. Vertrau ihr und folge ihr, aber sprich mit niemandem darüber. Das Schweigen sei unsere Zuflucht. Du weißt, wer diese Zeilen schrieb, eine, die es Dante immer noch verübelt und bis zum letzten ihrer Tage nicht verzeihen kann, dass er Francesca und Paolo in die Hölle versetzt hat, wo sie doch in den Himmel gehören. Muss man mit der Liebe nicht achtsamer umgehen? Aber wenigstens sind sie zusammen, wenn auch im Inferno.

Zweifel regt sich in meinem Herzen. Kann denn der Ort wirklich die Hölle sein, wo sie doch einander haben? Und wären sie im Paradies, aber getrennt, wäre ihnen der Himmel dann nicht die Hölle? Komm, komm schnell, geliebter Zähnebrecher!«

Wieder und wieder las er die Zeilen. Contessina wollte ihn sehen. Was hatte sie vor? Würde sie versuchen, ihn zur gemeinsamen Flucht zu überreden? Zu einer heimlichen Hochzeit? Voller Unruhe lief er in seinem Zimmer auf und ab. Kurz vor Mitternacht hörte er endlich ein Klopfen an seiner Tür. Contessinas Amme legte verschwörerisch den linken Zeigefinger auf die Lippen. In ihrer rechten Hand hielt sie ein kleines Talglicht. Mit klopfendem Herzen folgte er ihr durch die verborgene Welt des Palazzo, die er nicht kannte und die sich ihm auch nicht einprägte. Es ging über endlose Flure und Aufgänge, die im Dunklen lagen, kleine verwinkelte Stiegen, zwei, drei Stufen manchmal nur, oder Wendeltreppen. Schließlich öffnete die Amme eine Tür, schob ihn hinein und schloss sie geräuschlos hinter ihm.

Michelangelos Blick fiel auf einen kleinen Tisch. Die Kerzen darauf flackerten noch im Luftzug. Hinter dem Tisch stand ein großes Eichenbett mit gedrechselten und geschnitzten Pfosten, die einen rotsamtenen Baldachin trugen. Nur von seidenen Schleiern umhüllt, saß Contessina auf dem Bett. Durch das hauchfeine Gewebe sah Michelangelo, dass sie am ganzen Leib zitterte. Ihre Furcht und ihr Verlangen übertrugen sich auf ihn. Doch plötzlich überkam ihn der Wunsch, tot in ihren Armen zu liegen, die Sehnsucht nach Ewigkeit.

»Wenn ich schon diesen Ridolfini nehmen muss«, flüsterte Contessina »so möchte ich doch, dass du mein erster Mann bist.« Ein kaum hörbares »Bitte« vollendete den zwar leise, aber fast trotzig vorgetragenen Entschluss. Dann hob sie die Arme, und die Schleier glitten an ihrem Körper herunter. Ein leiser Duft nach Zimt und Sandelholz erfüllte den Raum.

Michelangelo wich einen Schritt zurück und blickte zu Boden, weil er nicht wagte, sie anzusehen. Die Nacktheit der Dirnen, die er für ihren Bruder Giovanni gezeichnet hatte, war etwas anderes. Sie machte ihm nichts aus, war nur eine andere Art der Bekleidung. Contessina aber wollte er so nicht sehen. Sie war doch keine Hure, sondern eine Göttin, seine Göttin! Nicht das bloße Gefäß seines Samens. Ihm schwindelte. Was verlangte sie da von ihm? Er sollte ihre Liebe entweihen, indem er das Gleiche tat wie jeder Köter auf der Straße? Er sollte sie bespringen wie ein Bock? Abwehrend hob er die Hände und wandte den Kopf ab. Er wollte etwas sagen, brachte jedoch nur ein Röcheln hervor und wankte aus dem Zimmer. Unendlich lange, wie ihm schien, irrte er benommen durch die Flure des Palazzo.

Plötzlich vernahm er einen lauten Lärm. Männer drangen in den Palazzo ein, Stiefel hallten in den Fluren wider, Schluchzen drang an sein Ohr, Fackeln loderten auf. Er konnte das Feuer riechen und hören. Das Holz krachte beim Brennen, und das Echo der berstenden Balken erfüllte die Luft. Michelangelo hatte nur einen Gedanken: Contessina!

Seine innere Stimme peinigte ihn mit Vorwürfen, eine Anschuldigung schrecklicher und widersprüchlicher als die andere. Wie hatte er nur dem geliebten Mädchen den Abschied und den Wunsch verwehren können? Aber hätte er anderseits ihre Liebe entweihen dürfen? Seine Kehle war wie zugeschnürt, als er versuchte, den Weg zurück zu ihrem Zimmer zu finden. Er verirrte sich hoffnungslos und fand sich schließlich auf der großen Freitreppe wieder.

Dort traf er auf Pico della Mirandola, der mit starrem Blick und wirrem Haar die Stufen hinuntertaumelte. Seine Kleidung befand sich in einer Unordnung, wie es wohl noch niemand je an ihm gesehen hatte – den Mantel schief über der Schulter, das halb geöffnete Hemd hing ihm aus der Hose. Plötzlich blieb der Graf stehen und blickte sich um, als suche er jemanden. Obwohl Michelangelo ihm gegenüberstand, schien er ihn nicht wahrzunehmen.

»So erfüllt sich die Prophezeiung der Kabbala«, stammelte Pico. »Das Jahr 1492 wird das Jahr des Untergangs, wie es die jüdischen Weisen aus dem Buch Hiob errechnet haben.«

Michelangelo verstand den Grafen nicht und ging ein paar Stufen auf ihn zu.

»Er ist tot!«, rief Pico mit leeren Augen und versteinerter Miene. »Lorenzo il Magnifico lebt nicht mehr. Möge sich Gott seiner armen Seele erbarmen. Möge Gott sich unser erbarmen! Mit seinem Tod, der ihm nichts mehr anhaben kann, beginnen unsere Leiden!« Dann brach er in die Knie, und sein Oberkörper sank vornüber. Er weinte hemmungslos wie ein Kind und breitete die Arme aus, als suche er nach einem Halt.

Entsetzt sah Michelangelo auf den gebrochenen Mann hinunter, der schluchzend auf den Stufen kauerte. Lorenzo de Medici hatte den vom Papst gebannten und von der Inquisition verfolgten Philosophen beschützt. Mit einem Mal begriff Michelangelo, dass es nicht die Angst um das eigene Leben war, die aus Picos heftiger Reaktion sprach, nicht die vorübergehende Trauer um einen geschätzten Menschen. Es war das Wissen, dass sich ihre Welt veränderte, dass nun die Stürme über sie hereinbrechen würden. Lorenzo war für sie alle ein Schutzschild gewesen. Was sollte aus ihnen werden, jetzt, da man sie ihres Patrons beraubt hatte?