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Sie durchquerten den Borgo, ließen den Petersdom rechts liegen, passierten durch das Tor die Schutzmauer, die dieses Stadtviertel und den Vatikan umgab, und liefen Richtung Trastevere.

Nach einer guten halben Stunde trafen sie im Kleinstaat der Huren ein und standen vor einem hell erleuchteten dreistöckigen Gebäude, aus dem Musik und Gelächter drangen. Sie wollten das Haus gerade betreten, da stieß eine kräftige Frau einen angetrunkenen Mann auf die Straße, der ins Straucheln geriet und der Länge nach hinschlug.

»Lass dich hier nie wieder mit leerem Beutel blicken«, fauchte sie den Mann an, der sich mühsam erhob.

»Was gibt’s, Petronilla? Warst du mit ihm nicht zufrieden?«, rief Sangallo.

»Den Beutel mein ich nicht. Wenn er kein Geld hat, soll er seine Geilheit an den Kühen und Ziegen am Colosseum auslassen. Mit seinem Schwanz beeindruckt mich kein Mann mehr, nur mit seinen Münzen!«

Sangallo lachte und zog Michelangelo hinein in das berühmte Bordell der Petronilla da Pecorino.

Wirkte das Freudenhaus schon von außen wie ein Palazzo, so verschlug das Innere Michelangelo vollends die Sprache. Eine solche Pracht, einen solchen Luxus, eine solche Lässigkeit hatte er in keinem öffentlichen Haus in seiner Heimatstadt Florenz gesehen. Dieser römische Tempel der Lust erinnerte in nichts an die schäbigen Häuser, in die ihn Piero damals geführt hatte und deren räumliche Gestaltung einzig auf die Verrichtung des Aktes abgestimmt war. Hier jedoch fand er sich unversehens in einem äußerst eleganten Salon wieder. Man konnte beim besten Willen keinen anderen Eindruck gewinnen, als dass die Herren sich an diesem Ort zuallererst zu unterhalten wünschten.

Sangallo, dem Michelangelos Verblüffung nicht entgangen war, flüsterte ihm zu: »Du musst das verstehen, mein Freund. Viele Männer mit gutem Einkommen in Rom sind Priester und müssen deshalb auf eine Familie verzichten. Das ist hier eher ihr Wohnzimmer als der Umschlagplatz der käuflichen Liebe. Petronilla und ihre Kurtisanen gaukeln den Männern Privatheit vor, Erholung im Kreis von Freunden, ja sogar Familie. Im Übrigen«, fügte er mit einem vielsagenden Lächeln hinzu, »was ist eine Gesellschaft ohne Frauen, die doch nicht nur jede Zusammenkunft veredeln, sondern auch die Männer?«

So ist das also, dachte Michelangelo. In Florenz suchten die verheirateten Männer Abwechslung, in Rom sehnten sich die Kleriker nach einer Art Ersatzfamilie. In der Arnostadt hofften die Männer, die mit gebildeten Frauen vermählt waren, auf die Erfüllung ihrer sexuellen Fantasien außerhalb ihrer Paläste und Häuser, am Tiber hingegen interessierten sich die reichen Männer für gebildete Gesprächspartnerinnen, die selbstredend auch für die Bemühungen der körperlichen Liebe zur Verfügung standen.

»Natürlich gibt es in Rom auch gewöhnliche Liebesnester – für die Männer aus dem Volk. Aber die kommen ja für uns nicht infrage. Hier, mein junger Freund, erholen wir uns und befriedigen unsere Bedürfnisse. Hier plaudern wir, schließen Allianzen, machen Politik und akquirieren Aufträge. Wer nicht in den Häusern der großen Kurtisanen willkommen ist, der ist in Rom nicht gelitten.« Sangallos Worte bestätigten nur das, was sich Michelangelos Augen ohnehin in reichlichem Maß darbot.

Kostbare Tapeten schmückten die Wände der unterschiedlich großen Säle im piano nobile. In die oberen Gemächer gelangte man über eine einladende Freitreppe. Michelangelo dachte an die kleinen Verschläge, in denen er im Gestank nach ranzigem Schweiß und gestocktem Samen die Zeichnungen für Giovanni de Medici angefertigt hatte.

In einem Florentiner Bordell ging es zu wie auf dem mer-cato vecchio: Nur das Geschäft zählte, bei Bezahlung erhielt man die Ware. Seit man den Adel vor über hundert Jahren aus der Stadt vertrieben hatte, war Florenz eine Stadt der Bürger, vor allem der Kaufleute geworden. Längst hatte die Bilanz den Stil ersetzt. In diesem Moment begriff Michelangelo, dass Piero de Medici nicht den Hauch einer Chance gehabt hatte, und leistete ihm innerlich Abbitte. Er hatte ausbaden müssen, was sein Vater, Lorenzo il Magnifico, der Stadt vergeblich aufzuzwingen versucht hatte – Stil und Größe. Einer Kaufmannsstadt!

Zwei elfenhafte Wesen, die ihn und den Architekten fröhlich in Empfang nahmen, hinderten ihn daran, in seinem Zorn über die unglücklichen Verhältnisse seiner Vaterstadt zu versinken.

»Ah, Messèr Giuliano«, gurrte eines der Mädchen. »Wen bringt Ihr uns da mit?«

»Einen Gott in Menschengestalt«, lachte Sangallo.

»Amor?«, fragte die andere und spitzte die Lippen wie zu einem Kuss.

Diese Dienerinnen der Venus kannten sich im Gegensatz zu ihren florentinischen Kolleginnen in der Mythologie aus, stellte Michelangelo fest. Angenehm überrascht war er auch darüber, dass sie es unterließen, ihre Gäste zur Begrüßung ans Gemächt zu fassen. Die Huren in Florenz taten das regelmäßig, um ihren Kunden zu versichern, dass sie die Sache im sprichwörtlichen Griff hatten.

Michelangelo fühlte sich von all den reizvollen Eindrücken wohlig berauscht und beschloss, sich einfach treiben zu lassen. Armer Piero, dachte er noch einmal, das hast du niemals erlebt. Armseliges Florenz!

Mit ihren reizenden Begleiterinnen betraten die beiden Männer den ersten Saal des piano nobile. Schöne, vornehm gekleidete Frauen lehnten in gedrechselten und mit kostbaren Stoffen bezogenen Sesseln und plauderten galant mit Männern jeglichen Alters. Überall wurde gelacht, gescherzt und kokettiert. Das Kerzenlicht spiegelte sich in den tulpenförmigen Weingläsern, die aus geschwungenen Karaffen eifrig nachgefüllt wurden. An den Wänden der Säle hingen kunstvoll gewirkte Teppiche. Darunter reihten sich lange, blumengeschmückte Tische, auf denen alle erdenklichen Köstlichkeiten auf die Genießer warteten. Zwischen Platten mit Fleisch, Fisch und Geflügel, gebraten oder gesotten, standen Salzfässer und Gewürzschälchen, silberne Schalen mit allerlei Gemüse und Körbe mit Obst oder geröstetem Brot und goldene Teller mit Marzipan und Datteln. Nein, niemand konnte hier auf den Gedanken kommen, er befände sich in einem Bordell.

Unter das Gewisper und Gelächter, das die Eskorte geistvoller Unterhaltungen bildete, mischten sich die Klänge von Lauten und Flöten. Eben sang ein hübscher junger Mann mit heiserem Tenor ein Lied von Liebe und Sehnsucht:

»Vergangene Nacht war mir der Schlaf genommen:

Der Tag wurde tausend Jahre lang nicht licht,

bis endlich mit den Tieren ich könnt kommen

zu dir und deinem edlen Angesicht …«

Freudig überrascht stieß Michelangelo Sangallo an: »Ein Gruß aus der Heimat«, sagte er, worauf ihn der Architekt fragend ansah.

»Dieses Lied ist von Lorenzo de Medici, die Zeilen stammen aus ›La Nencia da Barberino‹.«

Sangallos Augen wurden feucht. »Ach, zum Teufel mit dem Magnifico. Was hatte er sich da nur für eine schreckliche Posse einfallen lassen, so früh zu sterben? Alle hat er sie mit in die Gruft gezogen: Poliziano, Pico, Piero, all die guten Männer und liebenswerten Jünglinge. Piero war gewiss kein schlechter Kerl, aber ein Heißsporn – und zu jung für die Aufgabe.«

Die eine der beiden Elfen bemerkte die Träne, die über Sangallos stoppelige Wange rann, reckte sich und küsste sie weg.

»Ihr könnt so rasch laufen, wie Ihr wollt, aber den Wind, der gestern über die Felder ging, holt Ihr heute nicht mehr ein. Stoßt selbst das Rad der Fortuna an, wenn Ihr wünscht, dass es sich für Euch dreht«, raunte sie in sein Ohr.

»Hast ja recht, meine Schöne.« Sangallo räusperte sich, um seine Rührung zu verbergen, und presste das Mädchen so fest an sich, als könnte sein alter Körper Kraft aus ihrer Jugend ziehen.

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